Ahmed Rami, Founder of Radio Islam, Tel: (Sweden) + 46-708121240
رسالة مفتوحة  الى محمد السادس -   أحمد رامي يتحدث لجريدة  الأيام  - Débat à Al-Jazeera


Vorwort

Ahmed Rami lernte ich im Hause des damals zweiundachzigjährigen Generalmajors Otto Ernst Remer in dessen andalusischem Exil in Marbella kennen.

Die respektvolle Freundschaft die die beiden so unterschiedlichen Männer verband, schien auf den ersten Blick widersprüchlich: Hier der hühnenhafte, betagte deutsche Weltkriegsoffizier, hochdekoriert (Ritterkreuz zum Eichenlaub, 11 mal verwundet, 48 Nahkampftage), da derjunge ehemalige Panzerleutnant der marokkanischen Armee.

Hier der deutsche Berufssoldat, in preußischer Tradition erzogen, der einstens einen Putsch gegen sein Staatsoberhaupt Adolf Hitler niederschlug (20. Juli 1944), - da der ehemalige Panzerleutnant Ahmed Rami, Sohn eines stolzen und bettelarmen Berber - Scheichs (eine Kuh und vier Schafe), der alsjunger Offiziert seinem Staatsoberhaupt, dem König Hassan von Marokko - wie einst der Tell dem Landvogt - nach dem Leben trachtete.

Bei näherer Betrachtung aber fand ich heraus, dass die beiden so verschieden scheinenden Persönlichkeiten einander auf seltsame Weise ähnelten: Beide waren sie unbestechliche Idealisten, verständnislos für die materiellen Spielregel der " westlichen Wertegemeinschaft". Gefeit also gegen alle Versuchung. Ritterlich und allzeit bereit dem Guten zu dienen wie dereinst jener Don Quichote. Und bereit ihr Leben für die Sache ihres Volkes einzusetzen.

Ein fester Ehrbegriff war für das Handeln beider bestimmend. Beide wollten sie ihrem Volke dienen. Der eine 1944, der andere 1972. Remer war sich am 20 Juli 1944 gewiß, daß die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes hinter Hitler stand. Das Regime also legitimiert wart.

Ahmed Rami war 1972 der Überzeugung, in dem König von Marokko eine Marionette der französischen Kolonialmacht und der CIA vorzufinden, die ein schamloses Gewaltregime gegen den Willen seines Volkes ausübe. Die Staatsmacht also illegitim sei.

So verteidigte der eine sein Staatsoberhaupt als dieses angegriffen wurde und der andere griff sein Staatsoberhaupt, zu dessen Verteidigung er bestellt war, an. Und doch agierten beide aus demselben Bewegrund Der Vaterlandsliebe!

So sei dies die erste von zwei Botschaften, dieses Buches:

Es gibt Umstände, die einen Soldaten von der Treuepflicht zum Staatsoberhaupt entbinden und die ihn im Gegenteil sogar dazu verpflichten, sich gegen dasselbe aufzulehnen.

Denn der Soldat ist, wie jeder andere Bürger auch, zuerst dem Volke (Volksherrschaft/Demokratie) verpflichtet. Und damit natürlich auch der Executiven Macht des Staates, solange diese Macht vom Souverän, also vom Volke ihre Legitimation erhält.

Wenn sich allerdings die Regierung gegen das Volk stellt, wird für jedermann, für den Soldaten aber zuerst, der Widerstand zur Pflicht.

Denn wo immer ein Regime zum Schaden seines Volkes handelt, etwa dessen Herrschaft durch List und Täuschung verhindert, seinen Nutzen zu mindern sucht, es gar der Exclusivität seines Territoriums berauben oder es mit anderen Mittel vernichten will, ist die Bundeswehr des betreffenden Landes zum Widerstand gegen eine solche Bundesregierung verpflichtet. Ein derartiges Verbrecherregime, wenn es dieses denn wirklich gäbe, muß durch hartes Zupacken des Militärs festgesetzt und vor Gericht gestellt werden.

Und dies sei die zweite Botschaft dieses Buches:

In einer Zeit, da die amerikanische Weltordnung dem Selbstbestimmungsrecht der Völker weltweit den Krieg erklärt hat und mittels seines Geldsystems, seines Pressetrust den Völkern Afrikas, Europas und Asiens die Angleichung der Staatsgrenzen an die Volksgrenzen verweigert, müssen wir Deutsche erkennen: Wir können uns nicht mehr selbst befreien: Der globalen Bedrohung der Nationen und der Demokratien (Volksherrschaften) kann nur global entgegengetreten werden.

Das Recht der Albaner, der Tibetaner, der Hutus, Tutzis, der Apatschen, der Innuits, der Aborigines, der Kurden, der Armenier, der Buren, der Bantus, der Kroaten und Serben Bosniens und der Palästinenser müssen wir zu unserer eigenen, der deutschen Sache machen. Und die Fremden werden als unsere natürlichen Verbündeten, dann auch die deutsche Sache mit auch als die ihre erkennen.

Niemals sind Hass, Gewalt und ethnische Säuberung durch die Gewährung des Selbstbestimmungsrechtes entstanden sondern immer durch dessen Verweigerung.

Verantwortlich für diesen totalen hundertjährigen Krieg gegen Selbstbestimmung und Volksherrschaft ist das Amerikanische Imperium, (gemeint ist die Ostküste), das mit seinem perfiden Einparteiensystem nicht nur das eigene Volk unterdrückt sondern durch die Steuerung der Geldströme, mit Hilfie seines Mediennetzes und seiner Interventionstruppen eine tödliche Gefahr für die Ethnien und deren Demokratien in der Welt darstellt.

Diese Gefahr, da sie von ihrer Natur her eine globale ist, kann daher auch nur global besiegt werden:

Der Weiße Mann, der Schwarze Mann , der Gelbe Mann und der Rote Mann müssen sich weltweit verbünden gegen die Herrschaft des Geldes!

Was immer ab nun geschieht - uns alle geht es an.

Ein Bürgerrechtskämpfer und Deutschenfreund aus den Steinwüsten des Atlasgebirges, der für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser ebenso eintritt, wie für die Meinungsfreiheit in Deutschland soll unser Lehrmeister sein, wenn es ans Schmieden des welt weiten -Rassen- und Religionen- überschreitenden Paktes wider die Globalisierungstäter geht.

Er, der seine Stimme immer wieder für die politischen Gefangenen und Verfolgten erhoben hat, für Faurrisson, für Remer, für Walendy, für Deckert, für Kemper, für Lachout und unzählige andere.

Aber geben wir uns zuerst der Kunst seiner Sprache hin, die einfach und klar ist, wie der Koran selbst. Wie der Quell also, aus dem er sie dereinst als Hirtenkind geschöpft hatte!

Hört an die Geschichte des barfüßigen Knaben, der aus den Schluchten des Atlas kam und um seine Sendung wissend, die Straße nach Casablanca ging um das Lesen zu lernen.

Der aus Elend aufstieg, zum unbestechlichen Freiheitskämpfer und dessen Stimme im Exil zur Hoffnung seines Volkes wurde.

Jetzt sprich mein Freund, Ahmed Rami, Sohn des Scheichs!

Gerd Honsik



Ein Leben für Freiheit
Eine Selbstbiographie
Deutsche Übersetzung: Jürgen Graf

Kultur Verlag, Box 316, 101 26 Stockholm.
Ahmed Rami (EMAIL ) is the founder of the Radio station Radio Islam
Address: Box 316, 10126 Stockholm, Sweden. Phone: +46 708 121240
Ahmed Ramis
Idealismus
von Pravda
Ahmed Rami Teilnehmer an zwei
StaatscoupversuchenInterviewt
von Mustapha Tossa

 

Vorwort des Übersetzers

Ich habe Ahmed Rami im Juni 1993 kennengelernt. Von Anfang an hat mich die Persönlichkeit dieses aussergewöhnlichen Mannes stark in ihren Bann gezogen. So zögerte ich denn keine Sekunde, als eine schwedische Kameradin mit der Bitte an mich herantrat, sein 1989 beim Kultur Förlag in Stockholm erschienenes Buch "Ein Leben für Freiheit" ins Deutsche zu übertragen.

Ohne Kenntnis dieser sehr interessanten Selbstbiographie wäre sein politisches Engagement kaum verständlich. Nicht kühler, distanzierter Objektivismus prägt Ahmed Ramis Werk, sondern leidenschaftliche Parteinahme für die Muslime und Araber.

Heute ist Ahmed Rami eine sehr bekannte Person. Als er, gänzlich auf eigene Faust und ohne die geringste Unterstützung irgendeiner Organ- isation, mit den Sendungen von Radio Islam in Stockholm begann, mögen manche Vertreter der dort ungemein einflussreichen zionist- ischen Lobby über den kleinen Araber gelacht haben. Ihnen dürfte das Lachen inzwischen gründlich vergangen sein. Rami hat als erster in Schweden den Kampf gegen die Arroganz der Lobby aufgenommen.

Allerdings hat seine unzimperliche Kritik an Zielen und Methoden der Zionisten ihn für einige Monate hinter schwedische Gardinen gebracht. Er nutzte die Gelegenheit, um im Gefängnis Seminare mit Gefangenen und Wärtern durchzuführen und Hunderte von Exemplaren seiner Bücher zu verteilen.

Auch künftige Prozesse und die Aussicht auf eventuelle neue Gefängnisstrafen werden diesen Mann schwerlich einschüchtern. Für die unter totaler zionistischer Kontrolle stehenden schwedischen Medien ist Rami längst der Buhmann Nummer eins.

Als er nach dem gescheiterten Putschversuch gegen König Hassan - dieser wäre bei einem Gelingen des Staatsstreichs an die Wand gestellt worden - Zuflucht in Schweden fand, feierte man ihn als heldenhaften Freiheitskämpfer, und Premierminister Olof Palme empfing ihn persönlich.

Seitdem er begonnen hat, die Zionisten zu attackieren, speien die Mediencliquen Gift und Galle gegen ihn. Wer das grosse Tabu unserer Zeit bricht, ist für die Herrschenden offenbar hundertmal gefährlicher als jemand, der Staatsstreiche und die Füsilierung von Monarchen plant.

Die islamischen Gesellschaften, auch jene, die sich wie die iranische ernsthaft um eine eigenständige Politik bemühen, kranken an einem Mangel an gebildeten, mit der westlichen Mentalität, Geschichte und Politik vertrauten Kadern. Sie brauchen, wie Rami meint, dringend Menschen, welche die Verhältnisse des 20. Jahrhunderts mindestens ebenso gut kennen wie jene des siebten. Ihnen kann Ahmed Rami, der in Schweden zu einem politischen Faktor ersten Ranges geworden ist, als Vorbild dienen.

Jahrelang hat er zielbewusst seine Kenntnisse der schwedischen Sprache, der schwedischen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Landschaft vervollkommnet, ehe er mit seinem Radio Islam an die ™ffentlichkeit trat. Gäbe es in den muslimischen Ländern mehr Menschen seiner Klugheit und Zielstrebigkeit, so wären sie besser dran. Wer den Arabern und Muslimen Gutes für die Zukunft, wer ihnen politische und geistige Unabhängigkeit vom amerikanischen und zionistischen Imperialismus wünscht, muss ihnen recht viele Ahmed Ramis wünschen.

Die Übersetzung und der Druck dieser deutschen Rami-Ausgabe sind dank der Grosszügigkeit einer in Deutschland lebenden Schwedin möglich geworden. Ihr gilt unser herzlicher Dank.

Jürgen Graf


Vorwort des Verfassers

Zu jener Zeit, wo ich als Offizier der Königlichen Streitkräfte regel- mässig hinter die Kulissen der marokkanischen Macht blicken konnte, habe ich die Probleme meines Landes Tag für Tag miterlebt. Und ich war nicht der einzige Zeuge. Von den einfachen Soldaten bis zu den höheren Offizieren waren all jene, die sich noch eine gewisse moral- ische Integrität bewahrt hatten, in Opposition gegen die persönliche Macht Hassans II geraten, nachdem sie die Korruption und Fäulnis seines Regimes selbst entdeckt hatten. Die Militärrevolten, an denen ich mich beteiligte, waren der Ausdruck unserer Empörung in Anbe-tracht der Plünderung der nationalen Reichtümer durch den König und die Parasitenclique, mit der er sich umgab.

Im Gegensatz zu den westlichen Staaten gibt es in Marokko nur wenige Banküberfälle. Ganoven, die etwas auf sich halten, wissen heute, dass der sicherste, schnellste und im Grunde genommen einzige Weg zum Reichtum darin liegt, an der Macht teilzuhaben. Das Feudalsystem, das Hassan II im 20. Jahrhundert weiterführt, hat die allgemeine Korruption zum Regierungssystem erhoben. Er fesselt die herrschenden Eliten an sich, indem er ihnen droht, sie beim geringsten Widerstreben blosszustellen. Durch tausenderlei Verführungen bemüht er sich, wertvolle Persönlichkeiten, welche an sich zur Opposition neigen müssten, zu neutralisieren und sich untertan zu machen.

Das Tyrannenregiment Hassans II beruht auf keinerlei Legitimität. Es kann sich weder auf den Islam berufen (er verbietet die erbliche Monarchie) noch auf die Grundsätze der westlichen Demokratie. "Der König ist der Privilegierteste aller Privilegierten", schrieb der grosse Historiker Taine im letzten Jahrhundert. Diese Formulierung liesse sich heute auf Hassan II anwenden, dessen Regime nur noch den Interessen des Neokolonialismus sowie einer Minderheit von privilegierten Marokkanern dient. Letzere schwelgen in unerhörtem Reichtum, den sie noch nicht einmal durch wirklich produktive Tätigkeit erworben haben. Das Volk nennt sie schlicht und einfach "die Diebeö!

Ahmed Rami

 


 

Meine Heimat

Auf einem amerikanischen Satellitenphoto ähnelt die Bergkette des Anti-Atlas in Südwestmarokko, wo ich geboren wurde, der Oberfläche des Mondes. Nichts als ungastliche Wüste! Doch ändert sich das Bild, wenn man die Wege entlang fährt, welche sich durch tiefe Täler zwischen den hohen Bergen emporwinden, deren Gipfel bis zu 3000 Meter Höhe erreichen. Wohl sind die oberen Zonen der Berge und der hohen Hügel karg und unfruchtbar; die Wucht der Winde und Regengüsse hat ihre Spur bis weit in die Täler hinab hinterlassen, doch an beiden Seiten der Wege erkennt der Besucher, dass er ein uraltes Landwirtschaftsgebiet durchquert. Hier spriessen Haine von Mandel- und ™lbäumen und kleine Getreidefelder.

Sie legen Zeugnis davon ab, dass diese Gefilde eine Geschichte haben, dass hier eine alte Zivilisation vorhanden war und dass der Mensch dieses Land noch nicht ganz geräumt hat. Im Januar, wenn die weisse Pracht der Mandelblüten sich grell von der ockerfarbenen Erde abhebt und wenn nach der Schneeschmelze Sturzbäche die Wände der Schluchten niederzischen und über grüne Grasoasen strömen, sind die tiefen Täler des Anti-Atlas von betörender Schönheit. Ein Besucher, den es hierher verschlagen hat, mag dann annehmen, die Gegend sei fruchtbar. Doch leider trügt die Satellitenaufnahme nicht. Die ganze Region leidet schwer unter Wassermangel. und es fehlen jegliche Voraussetzungen für eine wirklich erfolgreiche Landwirtschaft.

Zudem hat sich im Lauf der letzten 30 Jahre das Klima ständig verschlechtert; die Abstände zwischen den Regenfällen sind immer länger geworden, und es kommt zu immer ausgedehnteren Dürreperioden. Armut und Elend sind die Folgen. Die Ergebnisse dieses Klimawandels sind in grossen Teilen von Nordafrika zu spüren, die langsam aber sicher zu Wüste werden. Im Südwesten Marokkos bildet der Anti-Atlas die Grenze zur Sahara, und wie überall in Grenzregionen sind es die dort lebenden Menschen, die zuallererst leiden müssen, wenn unheilvolle Zeiten nahen.

 

Das Wachsen der Wüste beruht allerdings nicht ausschliesslich auf unerbittlichen klimatologischen Faktoren. Im Verlauf der Jahrhunderte, während denen die Täler des Anti-Atlas bewohnt waren, hat der Mensch selbst tatkräftig zur Verringerung seiner Überlebensmöglich- keiten beigetragen. Weidende Herden haben den Boden seines natürlichen Schutzes entkleidet, und die Abhänge der Täler wurden ihres lebensspendenden Humus beraubt.

Von dem, was die Erde ihnen zu bieten hatte, konnten die Menschen in diesen kargen Zonen nie leben. Soweit die Erinnerung zurückreicht, haben sie versucht, ausserhalb ihrer angestammten Lebensbereiche auf Mittel zum Überleben zu sinnen. Während langer Dürreperdioden und in Katastrophenjahren musste der grössere Teil der Bevölkerung nach Norden fliehen, in die Ebenen längs der Atlantikküste, wo die Überlebenschancen besser waren.

Doch selbst zur Zeit verhältnismässig guter Ernten suchten viele Menschen - ausschliesslich Männer - ihr Glück im Norden, wobei sie ihre Familien zurückliessen. Jene, die das Arabische ausreichend beherrschten, versuchten sich oft als "Tulba", Religionslehrer, durch- zuschlagen, indem sie den Kindern im Norden beibrachten, arabisch zu lesen und zu schreiben und den Koran zu verstehen. Andere zogen zu den Bergwerken in Westalgerien, nachdem die Franzosen begonnen hatten, in ihrer Kolonie Mineralvorkommen auszubeuten. Doch die meisten von jenen, die gegen Norden wanderten, liessen sich in den Städten Nordmarokkos nieder und schufen sich dort eine Existenz als Kleinhändler.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Auswanderung der Männer aus den Gebirgsregionen des Südens solche Ausmasse angenommen, dass sie geradezu zur Regel geworden war. Jene, die in ihren Dörfern ausharrten, bildeten die Ausnahme. Den Auswanderern eilte bald der Ruf voraus, streng moralisch, arbeitsam und wirtschaftlich tüchtig zu sein.

 

In der Zeit vor dem 2. Weltkrieg konnte man in den Städten des Nordens ungefähr gleich gut leben wie als Bauer und Viehzüchter im Süden, doch zehn Jahre später hatte der Handel in Norden die Landwirtschaft im Süden klar auf den zweiten Rang verwiesen. Der relative Wohlstand, den man heute in den Dörfern antrifft, ist so gut wie ausschliesslich importiert.

Man nennt die Menschen aus den von mir geschilderten Regionen "Soussi" (Plural "Souassa"). Der Name kommt vom Fluss Souss, der zwischen den Gebirgsketten des Hohen Atlas und des Anti-Atlas hindurchfliesst und gerade südlich von Agadir ins Meer mündet. Doch wenn die Marokkaner allgemein von "Souassa" reden, meinen sie damit nicht die Bewohner der fruchtbaren Ebene um den Fluss, sondern die Volksgruppe, die oben in den Bergen des Anti-Atlas beheimatet ist.

Die Tausenden von Souassa, welche in den grossen Städten zu so erfolgreichen Kaufleuten geworden sind, kommen aus dem Gebiet um Tafraoute und entspringen Stämmen, deren Dörfer an den Abhängen des grossartigen, urwüchsigen Berges Jebel Lkist liegen. Dieser ragt 2800 Meter in die Höhe und beherrscht diesen Teil des Anti-Atlas.

Unterhalb dieses Berges erstreckt sich ein Tal von Norden nach Süden. Es ist nur einige Kilometer breit und ein paar Meilen lang, doch hier herrschen natürliche Voraussetzungen für Ackerbau und Besiedlung, wenn auch nur in begrenztem Umfang. Die Dörfer sind in der Nähe von Wasserläufen emporgeschossen, welche die Berghänge nieder- brausen, und um das Wasser herum haben die Bewohner terrassen- förmige Anbauflächen für Getreide, Mandelbäume und Olivenhaine angelegt. Doch heutzutage, wo der Ackerbau bereits grossenteils aufgegeben worden ist, sind die Dörfer verfallen, und einzelne Häuser stehen einsam und verlassen auf Feldern, die der Mensch wieder der Natur überlassen hat.

Die sieben Stämme jener Gegend zählen insgesamt vielleicht 80'000 Seelen. Zwei Nachbarstämme haben durch ihre Geschicktheit und ihren Erfolg nicht zuletzt auf dem Gebiet des Handels besonderen Ruhm erworben. Einer davon ist der Tahala-Stamm, dem ich angehöre.

 

Jeder dieser sieben Stämme gründet sich auf Verwandtschaftsbande. Ihr sozialer und kultureller Hintergrund ist sehr ähnlich. Sie bilden zusammen eine begrenzte geographische Einheit und besitzen gegenüber Fremden eine eigene Identität. Der Sammelbegriff für diese Stämme lautet "Ammeln".

Auf einer unteren Stufe finden wir dann Einheiten, die auf nahe Verwandtschaft und Blutsbande zurückgehen. Eine solche Einheit, die man Stamm nennt, aber vielleicht mit einem treffenderen Ausdruck als Klan bezeichnen könnte, heisst in der Berbersprache "afus", was öHand" bedeutet.

Ein solcher "afus" ist der Tahala-Stamm. Heutzutage ist er südwestlich des Berges Jebel Lkist beheimatet. Sein Verwaltungszentrum ist die kleine Stadt Tafraoute. Als mein Urgrossvater Rami den Tahala-Stamm anführte, hiess dieser Ait Rami. Rami bedeutet auf arabisch "Schütze", doch in der Berbersprache "Mann". Das Wort "ait" leitet sich vom arabischen "ƒila", "Familie", ab. Als mein Grossvater Moussa Ouhmou Stammeshäuptling wurde, nahm der Stamm den Namen Ait Moussa an.

Mein Grossvater wurde zum Häuptling gewählt, weil er mutig und ein guter Schütze war. Er wurde von einem schwarzen Berufsmörder umgebracht. Der Mord geschah auf dem Marktplatz Tahala, fünf Kilometer von unserem Dorf entfernt. Dies war ein unerhörter Frevel, denn der Tradition zufolge war es verboten, auf dem Markt einen Menschen zu töten.

Hinter dem Verbrechen stand ein feindlicher Stamm, der keinen anderen Weg sah, ihn aus dem Weg zu räumen, als einen Berufsmörder zu dingen, der ihn feige von hinten erschoss. Mein Grossvater war gewarnt worden, doch er wollte nicht als Angsthase dastehen und ging deshalb zum "Souk" (Markt). Am darauffolgenden Mittwoch erkannten einige Menschen auf dem grossen Markt in Tafraoute (Souk Larbƒa, 10 Kilometer von meinem Heimatdorf) den Mordgesellen wieder und erschossen ihn. So wurde mein Grossvater gerächt.

 

Unter den Souassa war Blutrache im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gang und gäbe. Ein Grund für die häufigen Rachefeldzüge lag in den inneren Spannungen, die unter einer Bevölkerungsgruppe entstanden, wo immer mehr Menschen von den immer kargeren Erträgen des Bodens leben mussten. Die Blutrache war aber auch ein Ergebnis der primitiven, aber wirksamen Rechtsordnung, die in isolierten Gemeinschaften existiert. Wer dort einen Menschen tötet, muss mit seinem eigenen Leben dafür büssen. Da es keine ordnende Macht gab, rächten sich die verschiedenen Familien und Klans auf eigene Faust für erlittenes Unrecht. Sie stützten sich dabei auf Bräuche und Regeln, die von Generation zu Generation übernommen wurden.

Geschah ein Mord, und war der Mörder bekannt, so musste er das Land verlassen. Danach konnte sich die Familie des Opfers nicht an der des Täters rächen. Doch konnten fünf Angehörige des Ermordeten schriftlich zu Rächern bestimmt werden; sie hatten dann das Recht, den Übeltäter aufzuspüren und umzubringen. Gelang ihnen dies, drohte ihnen keine Landesverweisung. War ein Mord ohne Vorbedacht begangen worden, konnte der Täter der Familie seines Opfers ein Blutgeld bezahlen. Bisweilen begnadigte der Stamm einen Mörder sogar dann, wenn die Tat vorsätzlich geplant war.

Natürlich gab es auch Morde, bei denen der Täter unbekannt blieb. Wurde dann jemand des Verbrechens verdächtigt, so konnten seine Blutsverwandten seine Unschuld beschwören. Dasselbe galt für andere Vergehen, die ungeklärt blieben. In manchen Fällen beschworen fünf Mitglieder eines Afus die Unschuld des Beschuldigten, in anderen 12 oder gar 25. Bei einem Mordfall brauchte der Verdächtige nicht weniger als 50 Bürgen. Als solche kamen lediglich Angehörige seines eigenen Afus in Frage. Üblicherweise wurde der Eid am Grabe eines Heiligen geleistet und von einem religiösen Führer mit dem Koran in der Hand überwacht.

Die soziale Gruppierung, die am besten dazu geeignet war, innere Streitigkeiten beizulegen, war der Afus. Ein solcher umfasste bis zu 50 Familien. In einem Dorf konnten viele Afus gemeinsam leben. Jeder Afus, und darüberhinaus jedes Dorf, wählte einen Führer, in der Regel einen älteren Mann, und zwar meist auf Lebenszeit.

 

Bei Streitfällen waltete dieser als Vermittler. Liess etwa jemand seine Ziegen auf den Feldern seines Nachbarn weiden, oder geschah ein Diebstahl, oder kam es zu einem Streit um Wasserrechte, so bemühte sich der "Anfgour", den Zwist zu schlichten. Als Anfgour bezeichnet man den gewählten Vertreter des Afus in der "Djamƒa" (Ratsversammlung) des Dorfes.

Der Stamm in seiner Gesamtheit wählte seinerseits einen Führer ("Anflous"). Seine Aufgaben waren dieselben, nur eben auf höherer Stufe. Jeder Stamm besass seine Regeln ("Luh", was eigentlich öHolzstück" bedeutet). Diese sahen genaue Sanktionen für alle Delikte vor und legten sogar die Art und Weise fest, wie Märkte abzuhalten waren. Dem Anflous oblag die Aufgabe, über die Einhaltung der Luh zu wachen. Alles hatte seinen Preis, sogar Beleidigungen. Wurde jemand verletzt, so mass man seine Wunde mit den Fingern eines mittelgrossen Mannes, und die Luh sahen für jede Fingergrösse der Wunde eine Bussezahlung im Verhältnis zum Ausmass des Schadens vor.

Regeln und Gebräuche dieser Art prägten das Dasein in den Souassadörfern. Sie waren im Lauf einer generationenlangen isolierten Existenz in den Bergen entstanden. Niemand weiss, wann die ersten Berber die Regionen des Anti-Atlas erreicht haben. Man weiss noch nicht einmal, wann dieses Volk Nordafrika zu besiedeln begann. Seine Geschichte ist in Mythen und Sagen gehüllt, und man kann nicht mit Sicherheit feststellen, woher es gekommen ist.

Die Griechen und später die Römer gaben diesem Volke den Spitznamen "Berber". Als solche galten den Griechen all jene Menschen, die nicht griechisch sprachen und somit ausserhalb der damals herrschenden, griechisch geprägten Zivilisation standen. Die Berber nennen sich selbst "Chleuch" und "Amazigh" (Plural "Imazighn"), was soviel wie "freie Menschen" bedeutet. Als die Araber gegen Ende des 7. Jahrhunderts nach Marokko kamen, bildeten die Berber dessen Bevölkerung.

 

Auf den Ebenen und in den teilweise städtisch geprägten Gebieten Marokkos errichteten die Araber ihre ersten festen islamischen Basen. In diesen Zonen wurde das Arabische übernommen, zunächst als Sprache der Religion, doch später auch als Alltagssprache.

In den Bergen wurde dem entstehenden Staat am heftigsten Widerstand geleistet. Dort sowie in der Wüste fiel die Bekehrung zum Islam leichter als die Übernahme der arabischen Sprache und des Stadtlebens. Erstaunlicherweise entsprangen einige der wichtigsten islamischen Kämpfer, die sich gegen die Korruption in den Städten und für einen erneuerten, revolutionären Islam einsetzten, den eigentlichen Nomaden der Sahara sowie den halbnomadischen Stämmen in den Bergen.

Hamitischsprechende Berber und semitischsprechende Araber; eine arabisierte Stadtbevölkerung und nichtsesshafte Berber der Gebirge, die während der verschiedenen Jahreszeiten von ihren Feldern zu den Weiden und dann zurück zu den Feldern wandern: das ist die Bevölkerung Marokkos. Dieses lässt sich einer Halbinsel vergleichen. Auf zwei Seiten wird es von Meeren umsäumt, dem Atlantik und dem Mittelmeer, auf der dritten von Wüsten und Gebirge.

Einst brach dieses Land aus seiner Isolierung aus und verpflanzte seine maurische Zivilisation nordwärts nach Spanien, doch musste es dieses einige Jahrhunderte später wieder verlassen und sich abermals in die Isolation zurückziehen. Marokko bildet den westlichen Aussenposten der islamischen Welt. Es wird überall von Stämmen aus den Oasen der Sahara durchstreift, von fanatisch gläubigen Nomaden, die eine Dynastie nach der anderen begründet haben. Länger als jedes andere Land in Nordafrika konnte sich Marokko der europäischen Zivilisation entziehen.

Doch eines Tages im Jahre 1907 stiegen französische Marineeinheiten bei einem ärmlichen Fischerdorf namens Anfa an Land. Der Ort heisst heute Casablanca und zählt vier Millionen Einwohner. Marokko ist ein Land, das grösstenteils aus Bergen und Wüsten besteht. Hier scheint die Zeit langsamer vorangeschritten zu sein als anderswo.

 

Will man festsetzen, von wann an sich das Rad der Geschichte rascher zu drehen begann, so fällt die Wahl zwangsläufig auf das Jahr 1912. Damals eröffneten Franzosen und Spanier ihren Eroberungsfeldzug in Marokko. Dieses wurde zum "Protektorat" ernannt, was bedeutete, dass die europäischen Mächte das Recht für sich in Anspruch nahmen, es nach Herzenslust auszuplündern.

Es war den französischen Streitkräften ein leichtes, die korrumpierten Städte und die Ebenen in Besitz zu nehmen, doch es dauerte 20 Jahre, bis sie die Bergvölker des Anti-Atlas "befriedet" und unterworfen hatten. Der Grund dafür lag einerseits in dem unwegsamen Gelände, andererseits im unerschrockenen Widerstand der Bergbevölkerung. Der Islam kam aus dem Osten, um die Menschen zu befreien; der Kolonialismus kam aus Europa, um sie wirtschaftlich, kulturell und politisch zu unterdrücken und auszubeuten.

In der Mitte der vierziger Jahre baute die französische Armee die erste Strasse zwischen Tafraoute und Tiznit. Darauf begannen die Männer aus Souss, in grosser Zahl nach Casablanca abzuwandern, das in der Folge unmässig wuchs.

 
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Die ersten Jugendjahre

Als ich das Licht der Welt erblickte, waren meine Eltern Bauern, doch reichte der Ackerbau nicht aus, um der neuen Generation eine würdige Existenz zu bieten, so dass mein Vater, M'barek ben Moussa ebenfalls nach Casablanca zog. Ich habe keine Ahnung, in welchem Jahr das war, und ich weiss nicht einmal, ob er zu Hause war, als ich geboren wurde.

Mein Geburtsort war das Dorf Douar Ait-Mar, in der Gegend des Tahalastammes, unweit von Tafraoute im Anti-Atlas. Mein Geburtsjahr mag 1946 gewesen sein, aber dies ist nicht sicher. Würde ich meine Mutter Fatima heute nach dem Datum fragen, so wüsste sie kaum zu antworten. Sie ist Analphabetin und hat nie im Leben einen Kalender besessen. Das einzige, was zählt, ist die Jahreszeit; wichtig ist, ob es Winter oder Sommer ist. Jede Jahreszeit kehrt wieder, sie braucht nicht datiert zu werden. Für meine Mutter ist die Zeit ein Kreislauf, kein Fortschreiten. Will sie einen Zeitpunkt näher bestimmen, so bezieht sie sich auf ein bedeutsames Ereignis, das im Gedächtnis der Menschen haften geblieben ist, eine Seuche beispielsweise oder eine Naturkatastrophe.

Dass meine Mutter weder lesen noch schreiben kann, ist in Marokko durchaus nichts Aussergewöhnliches. Sie hat ihr Heimatgebiet nie im Leben verlassen; für sie endet die Welt am Horizont des nächsten Berges. Ihre Welt umfasst das Dorf, das Nachbardorf und den Stamm. Sobald ich kräftig genug dazu war, musste ich meiner Mutter bei der Feldarbeit helfen. Ich hatte einen älteren Bruder, der mit meinem Vater nach Casablanca ziehen durfte. Dass die Menschen in meinem Dorf so viele Kinder wollten, lag wohl vor allem daran, dass sie möglichst viele Arbeitskräfte für die Feldarbeit brauchten. Kinder waren ihre Altersversicherung.

Meine Mutter hat acht Kinder zur Welt gebracht. Zuerst wurde Mohamed geboren, dann ein Mädchen namens Khlija. Sie starb an irgendeiner Krankheit. Es gab im Dorf kein Krankenhaus, keinen Arzt und keine Krankenschwester. So etwas gab es auch in Tafraoute nicht, und überhaupt nirgends in der ganzen Umgebung.

 

Als drittes Kind kam ich zur Welt. Es folgten Abdallah, Lahcen, Ali und nach diesem noch zwei Kinder, Brahim und Mustafa, die beide einer Krankheit erlagen. Abdallah, Lahcen und Ali leben heute in Casablanca. Mohamed ist ca. im Jahre 1977 gestorben. Als ich ungefähr vier Lenze zählte, schickte meine Mutter mich auf eine Koranschule, wo ich die Sprache der heiligen Schrift, Arabisch, lesen und schreiben lernen sollte. In jedem Dorf gab es eine Moschee und einen "Fqih", einen Religionslehrer, der genug wusste, um die Grundlagen des Lesens und Schreibens zu vermitteln. Ihm oblag auch die Verantwortung für die Moschee; diese ist nämlich nicht nur ein Ort des Gebets, sondern dient auch als Schule für Kinder, welche dort den Koran auswendiglernen sowie lesen und schreiben lernen.

Unser Fqih, Sidi Souleiman, stammte nicht aus dem Dorf, sondern aus einer ganz anderen Gegend, denn einen Menschen, der so hochgebildet war, dass er das Arabische in Wort und Schrift einigermassen beherrschte, gab es bei uns nicht. Er schrieb die Briefe, welche die Einwohner unseres Dorfes absenden wollten - etwa den, welchen meine Mutter an den in Casablanca weilenden Vater schickte - und las ihnen auch die Briefe vor, die sie ihrerseits erhielten.

Er war es auch, der den Koran und die islamische Religion vermittelte und deutete. Der Islam kennt keinen Priesterstand. Das Wort Fqih bezeichnet schlicht und einfach den "Gelehrten, der als Lehrer und Imam in der Moschee wirkt. Unter einem Imam versteht man den Leiter des Gebets. Als solcher kann jeder beliebige Muslim amten. Jeder, der eine Ausbildung durchlaufen hat, ist ein Fqih.

Im Dorf lebten rund 40 Familien. Jeden Tag ass der gelehrte Mann bei einer davon; sie sorgten abwechselnd für sein Essen. Er betrat ein Haus nur, wenn der Mann daheim war; ansonsten bereitete ihm die Frau einen Teller Essen zu, der ihm dann überreicht wurde.

Eines schönen Tages sandte mich meine Mutter also wie erwähnt auf zu ihm. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich dort benahm. Ich ging einfach auf den Lehrer zu und sagte ihm, ich sei ein neuer Schüler. Er blickte mich böse an. "Hau ab", sagte er, "du gehörst aufs Feld. Du bist nicht dafür geschaffen, lesen und schreiben zu lernen und den heiligen Koran zu studieren." 15 Später erfuhr ich, dass er so wütend war, weil ich ihm kein Geschenk mitgebracht hatte. Ich selbst wurde zornig und traurig zugleich und heckte, wie mir meine Mutter später erzählt hat, einen Racheplan aus. Als wieder der Tag gekommen war, wo meine Familie ihm sein Essen besorgen musste, schickte meine Mutter mich mit einem Paket zur Moschee.

Dort ging es so zu, dass man an die Tür klopfte, worauf er die Hand ausstreckte und den Teller in Empfang nahm, ohne einen Blick nach aussen zu werfen, denn im allgemeinen wurde ihm das Essen von Frauen gebracht. Auf dem Weg zur Moschee hatte ich dass Essen auf dem Teller weggeschüttet und durch Kot ersetzt. Der Lehrer platzte förmlich vor Wut und schleuderte mir den Teller nach, während ich eilig das Weite suchte. Dies verursachte im Dorf einen Riesenskandal. Hätte man mich zur Koranschule zugelassen, so hätte ich Freundschaft mit den anderen Kindern geschlossen, doch stattdessen musste ich auf den Feldern arbeiten.

Während meiner Kindheit habe ich so gut wie niemals gespielt, denn ich musste in aller Herrgottsfrühe aufstehen, um das Essen zuzubereiten und die Tiere zu füttern. Damals besassen wir eine Kuh und ein Schaf. So etwas wie ein Spielzeug nannte ich nie mein eigen. Doch, einmal hatte ich eines. Als mein Vater eines Tages in der Nähe unseres Hauses einen Brunnen grub, sah ich, wie er vorging. Er benutzte dazu einen Vorschlaghammer sowie einen Handbohrer, um Löcher auszuheben. Dann stopfte er Schiesspulver und eine Lunte hinein. Als ich einmal allein zu Hause war, tat ich es meinem Vater gleich, doch legte ich das Schiesspulver sowie die Lunte unter einen grossen Stein. Der Knall war im ganzen Dorf zu hören. Soweit ich mich entsinnen kann, war dies das einzige Mal, dass ich gespielt habe.

Das Dorf war sehr arm, aber selbstversorgend. Die Menschen bauten alles an, was sie zum Leben brauchten, und Hunger war unbekannt. Jedermann arbeitete ausserordentlich hart. Das Klima jener Zonen ist ungünstig, und schon zu jener Zeit herrschte Wassermangel.

 

Doch so schwer die Leute auch für ihr tägliches Brot schuften mussten, sie waren frei und hatten die Würde sowie den Stolz des unabhängigen Menschen. Bettler und Diebe waren unbekannt, und Kriminalität gab es so gut wie gar nicht. Alle gehörten dem gleichen Stamme an; kein Fremdling hauste im Dorf. Man heiratete einen Partner aus demselben Dorf oder vielleicht aus dem Nachbardorf, doch keinen Fremden.

Das Leben der Dorfbewohner war äusserst stark von der Religion geprägt. Der Islam war alles, was den Menschen zur Verfügung stand, um die grossen Fragen des Lebens zu beantworten. Unterliess es jemand, regelmässig zu beten, so wusste gleich das ganze Dorf davon. Ein solches Versäumnis gilt dort bis zum heutigen Tage als Schande.

Die "säkularisierte" weltliche Macht hatte seit der Ankunft der Franzosen ihren Sitz in Tafraoute, denn dort residierte der Hauptmann, der die Kolonialmacht vertrat. Von meinem Dorf waren es 17 Kilometer nach Tafraoute; dorthin führte durch das Tal ein Pfad, aber eine Strasse gab es noch nicht. Die Luftlinie betrug wohl nicht mehr als fünf Kilometer. Jeden Mittwoch wurde in Tafraoute ein Souk, also ein Markt, abgehalten. Diesen suchten wir allerdings nur selten auf, weil es in Tahala, das nur halb so weit weg lag, einen Sonntagsmarkt gab.

Solche Märkte spielten auch eine bedeutsame soziale Rolle. Man traf sich nicht nur, um Geschäfte abzuschliessen. An diesen Tagen trug man seine besten Kleider, da man ja Menschen aus anderen Gegenden traf. Man plauderte über "Politik", vermittelte Neuigkeiten und erzählte Gerüchte weiter. Auf einem Markt wurde mein Vater 1956 zum öShejk" (Stammes-häuptling) gewählt. Bei uns Berbern ging die Häuptlingswürde keinesfalls automatisch vom Vater auf den Sohn über. Ein neuer Shejk wurde gewählt. Mein Vater hatte gegen die Franzosen gekämpft, und in Casablanca hatte er Interesse für die Politik geschöpft und sich 1953 der Istiqlal, also der Selbständigkeits-partei, angeschlossen. Deshalb verehrten ihn die Menschen im Dorf. Bei der Wahl auf dem Marktentfielen fast alle Stimmen auf ihn, und er wurde Stammeshäuptling (öAmghar" in der Berbersprache). Die Dorfbewohner nannten mich nun "Ben Shejk", Sohn des Scheichs. Auf diesem Wege wurde mein Vater nun auch zum Vertreter der zentralen Macht des Stammes, nachdem Marokko seine Unabhängigkeit erlangt hatte. 17 Wie alle Berberdörfer war auch das unsere von altersher von einer öDjamƒa" gelenkt worden. Unter einer solchen versteht man eine Gruppe von zwölf durch die Dorfbewohner gewählten Männern, welche eine Art Rat bildeten. Sie trafen sich so oft sie konnten und erörterten die Lage im Dorf. Formale Sitzungen gab es nicht; sie fanden sich einfach zusammen und setzten sich irgendwo hin. Grundsätzlich konnte jeder beliebige Mann an diesen Treffen teil-nehmen, und die meisten, die dies taten, waren altehrwürdige Männer.

Das Alter spielte eine wichtige Rolle, denn "die älteren sind weiser als die jüngeren", und man schenkte ihnen grössere Aufmerksamkeit. Da das Dorf so abgelegen war, diskutierte man meist über praktische Fragen, beispielsweise darüber, ob man gemeinsam eine Brücke bauen sollte oder wann man mit der Ernte beginnen wollte. Der Boden, der einem Bauern gehörte, bildete nicht unbedingt ein zusammenhängendes Ganzes; man konnte da ein Stückchen Land besitzen und dort ein Stückchen, und es galt den richtigen Zeitpunkt für Aussaat und Ernte beizeiten festzulegen.

Mein Vater hatte an dem langen Krieg gegen die Franzosen teilgenommen, welche die ländlichen Zonen Marokkos unter ihre Herrschaft bringen wollten. Dieser Krieg zog sich über 25 Jahre dahin. Erst dann glückte es den Franzosen, die Landgebiete zu unterjochen. Mein Vater war bei der letzten Schlacht bei Ait Abdallah im Jahre 1934 dabei. Damals besiegten uns die Franzosen; anschliessend beuten sie in Tafraoute einen Militärstützpunkt.

Die Enttäuschung unserer Kämpfer war natürlich grenzenlos. Unser ganzer Kampf unterstand islamischen Prinzipien. Er war eine Art öJihad", worunter man die islamische Pflicht zum Kampf gegen die Ungerechtigkeit versteht. "Jihad" heisst Kampf. Im Westen missversteht man den Begriff im allgemeinen. Man meint, es bedeute "heiliger Krieg", doch dieser Erklärung ist zu einfach. Das Wort leitet sich vom Verbum "jahada" (ösich anstrengenö) ab. Jihad ist eine islamische Pflicht. Es ist der Kampf gegen das Böse und das Unrecht, nicht, wie man im Westen wähnt, ein "heiliger Krieg", sondern ein Krieg für die Gerechtigkeit, deren Schutz einem Moslem als religiöse Pflicht obliegt. 18 Das Gerechtigkeitsprinzip ist der Grundpfeiler des Islam. Es verlangt von jedem einzelnen, dass er sich anstrengt. Man unterscheidet zwischen dem "grossen" und dem "kleinen" Jihad. Der grosse Jihad ist der Kampf gegen das Böse in uns selbst. Der kleine Jihad ist der Kampf gegen das Böse ausserhalb von uns, das Böse in der Gesellschaft oder der Welt.

Als die Franzosen unser Land kolonisierten, wurde gegen sie der kleine Jihad ausgerufen. Aber das Böse, das Unrecht triumphierte über uns. Für alle unsere Menschen war dies eine namenlose Enttäuschung, eine Katastrophe ärgster Art. Doch das Volk gab nicht auf, sondern setzte seinen Widerstandskampf fort. Der Islam verlieht ihm Kraft und Stärke wie später den afghanischen Freiheitskämpfern gegen die Sowjets oder heute noch den Palästinensern.

Der Widerstand gegen die Kolonisierung war für uns eine Herzenssache. Der Kolonialismus, dem wir gegenüberstanden, war nur ein Teil des kolonialistischen Systems, das so gut wie die ganze islamische Welt heimsuchte und noch heute in verschiedenen Formen weiterlebt: indirekt beispielsweise in Marokko, direkt in Palästina und im Libanon.

Im Jahre 1936 leitete ein Fqih, also ein religiöser Führer, im Atlas- gebirge mit 1000 Mann einen Angriff gegen eine französische Garnison. Gott wird uns beistehen, sagte er, wir brauchen keine Waffen. Die Franzosen schossen die Angreifer natürlich über den Haufen oder nahmen sie gefangen. Da begriff das Volk, dass man den Eroberern und Kolonialisten nicht mit blossen Händen entgegentreten kann.

Man besass damals lediglich alte Waffen: Messer, Schwerter, eine Handvoll uralter Flinten. Der Gegner verfügte über ein hochmodernes Waffenarsenal. Die westliche Technologie hatte über unsere Rückständigkeit gesiegt, nicht über unseren Glauben oder unsere Ideale. Die ganze Überlegenheit Israels und der westlichen Welt fusst auf dieser technologischen Überlegenheit über die islamische Welt sowie die dritte Welt ganz allgemein.

 

Vor der Franzosenzeit übten die 12 Männer, aus denen sich die Djamƒa zusammensetzte, die gesamte Rechtssprechung im Dorf aus. Im Islam gab es für jede Situation Präzedenzfälle und Regeln. Wenn die Männer einen Entschluss gefasst hatten, ging ihr Bescheid von Mund zu Mund durchs Dorf. Nichts wurde niedergeschrieben. Man konnte da von einer Art direkten Demokratie freier Männer sprechen, welche kennzeichnend für die Berbergesellschaften war.

Solange die Dörfer isoliert waren und keine Zentralmacht existierte, ging das gut. Nachdem die Franzosen Fuss gefasst hatten, durfte sich der Dorfrat, die Djamƒa, nur noch mit rein praktischen Alltagsfragen befassen, während die tatsächliche Macht bei den Franzosen lag, die dann auch alle wichtigen juristischen Fragen selbst entschieden. Dies rief Unwillen bei den Berbern hervor, welche diese Einmischung als Widerspruch zu den islamischen Gesetzen auffassten. Nun entschieden die Kolonialisten über zivil- und familienrechtliche Probleme, die für die Dorfbewohner von allergrösster Wichtigkeit waren und deren Hintergrund die Franzosen nicht kannten.

Die Menschen im Dorf wandten sich auch dagegen, dass die Franzosen Berber und Araber gegeneinander auszuspielen suchten. In Marokko besteht wohl ein Gegensatz zwischen Land- und Stadtbevölkerung, doch keinesfalls zwischen Berbern und Arabern. Für den Durch- schnittsmarokkaner sind "Araber" und "Moslem" Synonyme. Dass man Araber sein kann, ohne zugleich Moslem zu sein, ist für ihn unverständlich. Man darf den Koran nicht übersetzen, und man darf seine Gebete nicht in der Berbersprache verrichten. Das Arabische ist die Sprache des Koran und folglich heilig. Wenn meine Mutter auf dem Boden ein Papier mit arabischer Schrift sieht, regt sie sich furchtbar auf, weil eine heilige Sprache nicht in den Schmutz gezogen werden darf. Für sie ist also "Araber" genau dasselbe wie "Moslem".

So etwas wie instututionalisierte Korruption gab es in unserer Gegend vor der Kolonialzeit nicht. Natürlich bestanden Ungerechtigkeiten, aber solche beseitigten wir selbst, und wer einem anderen ein Unrecht zufügte, konnte schlimmstenfalls dafür getötet werden. Hier lag das Prinzip der Blutrache begründet: Hast du einen Menschen umgebracht, so musst du im allgemeinen mit deinem eigenen Leben dafür bezahlen.

 

Die Besatzerbehörden arbeitete mit Verrätern zusammen, die schalten und walten konnten, wie es ihnen beliebte, ohne dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen wurden. Ungerechtigkeit und Korruption wurden von neuen Gesetzen, vom Staat und der Polizei gedeckt. Vor der Kolonisierung herrschte Ordnung, die dann durch eine Art organisierte Anarchie abgelöst wurde. Gewisse Leute konnten morden, sich der Korruption hingeben, ihre Macht schamlos missbrauchen und sich aufführen, wie sie wollten, ohne dafür eine Bestrafung zu riskieren. Sie hatten das "Gesetz" und die Staatsmacht auf ihrer Seite.

Früher waren wir alle ungefähr gleich arm, doch nun konnten einige durch Korruption oder durch Handel in den Städten zu Reichtum gelangen, weshalb die soziale Kluft zwischen arm und reich wuchs. Als Beispiel kann man einen Neureichen namens Bouhdar anführen, der zu Beginn der fünfziger Jahre in Tahala lebte. Er häufte durch Spekulation Unsummen von Geld an, hatte seine Finger in allen möglichen Bestechungsaffären und schenkte dem französischen Militär- kommandanten ein schickes Auto. Als Gegenleistung bekam er die Erlaubnis, unter dem Schutz der französischen Militärmacht zu tun, wonach ihm der Sinn stand. Er war also zum Kollaborateur geworden.

Zum Zeitpunkt, wo ich dieses Buch schreibe, ist dieser Mann noch am Leben. Er treibt es immer noch wie früher, nur verrichtet er seine Dienste nun für die neokolonialistischen Behörden des "neuen", formal selbständigen Marokko. Ehe die Franzosen abzogen, traten sie die Macht an die Verräterclique ab, die das Land heutzutage regiert. Solchen Verrätern wie dem erwähnten Boudhar galt unser Hass. Nachdem die Franzosen den Krieg gewonnen hatten, bekamen wir ihre Beamten nicht allzu oft zu Gesicht.

In unserer Gegend lebte nur ein einziger französischer Offizier, der Militärkommandant der Besatzerarmee in Tafraoute, der zugleich Gouverneur und Führer eines marokkanischen Söldnerbataillons war. Doch nach dem verlorenen fünfundzwangzigjährigen Krieg war das Volk müde geworden. Pessimismus, Verzagtheit und Verzweiflung nahmen überhand, und die Verräter machten sich diese Stimmung zunutze. Der von den Kolonialisten protegierte Sultan wurde vom Volk als Verräter betrachtet. 21 Die Franzosen wussten natürlich sehr wohl, dass unsere Bergzonen isoliert und selbständig gewesen waren und mit dem korrupten Rest des Landes nicht allzu viel zu tun hatten. Diese Situation wollten sie nun für ihre eigenen Interessen ausnutzen, indem sie die Berber an der französischen kulturellen Invasion teilhaben liessen. Die Franzosen entschieden, "richtige" französische Schulen zu errichten und riefen für alle Kinder die allgemeine Schulpflicht aus.

Dahinter stand die Absicht, den Berberkindern Französisch beizubringen. Auf diese Art sollte ein Riss zwischen französisch- sprechenden Berbern auf dem Land und arabischsprechenden Arabern in der Stadt entstehen, aber auch eine Kluft zwischen den Berbern und ihren mit der französischen Sprache aufwachsenden Kindern. Während meiner Jugendzeit gab es bei uns im Dorf ausser dem Fqih niemanden, der Arabisch konnte.

Als die Franzosen irgendwann anno 1951 oder 1952 in Tafraoute eine Schule bauten, erregte dies heillosen Schrecken. In Windeseile verbreitete sich das Gerücht, die Franzosen wollten die Kinder stehlen. Damit gemeint war natürlich, dass sie sie ihren Eltern kulturell entfremden wollten, doch manche erzählten, sie wollten die Kinder den Eltern buchstäblich wegnehmen.

Eines Nachts machte sich meine Mutter deshalb heimlich mit mir auf den Weg. Ich erinnere mich noch daran, dass sie mich auf ihre Schultern setzte und dass ihr Nackenhaar mich an der Innenseite meiner Schenkel kitzelte (die Frauen pflegten sich den Nacken zu rasieren).

Im Schutze der Dunkelheit brachte meine Mutter mich in ein Dorf, das acht Kilometer von unserem Heimatort entfernt war. Von dort fuhr ein Bus nach Casablanca. Sie schickte mich mit einem Freund meines Vaters auf den Weg, denn am nächsten Tag sollte der Unterricht in der französischen Schule anfangen.

Ich war keinesfalls das einzige Kind, das auf diese Weise aus dem Dorf geschmuggelt wurde. In vielen Nachbardörfern geschah Úhnliches, da die Leute dort ihre Kinder auch nicht auf die Franzosenschule schicken wollten. 22 So verschlug es mich das erste Mal nach Casablanca. Statt die Schule zu besuchen, musste ich als kleines Kind bei meinem Vater in einem Geschäft arbeiten. Das war im Jahre 1952. Ich zählte damals fünf oder sechs Jahre.

Als die ersten französischen Soldaten nach Marokko entsandt wurden, um dort ein "Protektorat" zu gründen, stiegen sie beim Fischerdörfchen Anfa an der marokkanischen Atlantikküste an Land. Sechzig Jahre später war das Fischerdörfchen zur viertgrössten Stadt des afrikanischen Kontinents geworden. 1968 wohnte jeder zehnte Marokkaner in Casablanca, einer rasch wachsenden Metropole, welche, wie so viele andere Grossstädte der Dritten Welt, die Landbevölkerung förmlich einsaugt.

Casablanca ist also eine junge Stadt und gleicht keiner anderen in Marokko, sondern weist einen ganz eigenen Charakter auf. Das Zentrum, wo die grossen Hotels und Geschäfte liegen, könnte irgendeiner anderen Stadt im Mittelmeerraum gehören; es gibt dort wenig, was echt marokkanisch ist. Das Stadtbild wird von zehn- bis fünfzehnstöckigen Häuern geprägt, die zur Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut wurden.

Heutzutage flankieren die Häuser die breite Strasse der Königlichen Streitkräfte, die bis zum Platz Mohammeds des Fünften reichen (früher hiess er Place de France). Auf der anderen Seite des grossen Markts erstreckt sich das alte Medina (was auf arabisch "Stadt" heisst). Als die Franzosen kamen, lebten dort ca. 20'000 Menschen. Heute, 70 Jahre später, drängen sich rund 3 Millionen Einwohner auf ungefähr der gleichen Fläche zusammen.

Anfänglich expandierte die Stadt von der Place de France aus in alle Richtungen. Die Europäer wohnten im Zentrum. Ein Disktrikt, Maƒrif, war zur Kolonialzeit hauptsächlich von Spaniern bewohnt. Um 1930 erhielten die Marokkaner die Erlaubnis, in ein neu erbautes öeuropäisches" Gebiet zu ziehen, Neumedina, dessen Einwohnerzahl bis 1960 auf l85'000 zunahm.

 

Die meisten Bewohner dieser neuen Stadtteile rekrutierten sich aus der marokkanischen Mittelklasse, die fast jeden Marokkaner umfasst, welcher für seine Arbeit Lohn bezieht: Arbeiter, Staatsbeamte, Büroangestellte, Lehrer und Ladenbesitzer. In diesen Quartieren schossen die nationalistischen Bewegungen der Städte aus dem Boden und warben ihre ersten Anhänger.

Vielleicht meinten die Franzosen, als sie Neumedina aus dem Boden stampften, sie könnten die Eingeborenen so von den im Zentrum lebenden Europäern isolieren, doch dieses Kalkül schlug fehl. Als diese Stadtteile zur Hochburg der Stadtguerrilla wurden, bereitete es den französischen Behörden allergrösste Mühe, in die Stützpunkte der Widerstandskämpfer einzudringen.

Immer mehr Kopfzerbrechen verursachte den Franzosen auch das rasche, illegale und unkontrollierbare Wachstum der Slums an den Stadträndern. Solche Elendsquartiere begannen während der zwanziger Jahre aus dem Boden zu schiessen, und während der dreissiger Jahre wucherten sie krebsartig aus. Auf französisch nannte man sie öbidonvilles", was von "bidon", "Blechbüchse", kommt. Das wichtigste Baumaterial waren nämlich Konservendosen, die man plattdrückte und dann zur Herstellung von Wänden und Dächern benutzte. Die beiden grössten Slums von Casablanca sind die CarriÜres Centrales (1959 59'000 Einwohner) und Ben M'sik (1959 97'000 Einwohner).

Andere Elendsviertel schossen überall dort wie Pilze aus dem Boden, wo ein Grundbesitzer bereit war, Land zu vermieten, oder wo die neuen Stadtbewohner unbebautes Terrain vorfanden. Die kommunalen Behörden haben diese Stadtteile niemals juristisch anerkannt, und kein Besitzer einer Blechhütte wagt deshalb, diese in eine ordentliche, permanente Wohnung umzugestalten - aus Angst davor, dass die Behörden eines Tages Bulldozer auffahren und das ganze Slumviertel niederwalzen lassen könnten. Ungefähr 30% aller Einwohner von Casablanca hausen in solchen "bidonvilles". Diese Ghettos werden eines Tages vielleicht die ganze Stadt verschlingen. Hier existiert eine Subkultur, in welcher die Menschen schon seit Jahrzehnten in weitgehender Isolation von der Stadt und deren Bewohnern leben.

 

Die Einwohner dieser Slums sind den Behörden gegenüber feindlich gesinnt, aber wohl doch nicht bereit, sich zu verteidigen, weil sie so unerhört verwundbar sind und so viel zu verlieren haben. Die Stadt ist ihrer Meinung nach immer noch besser als das Dorf, egal ob es nun Arbeit gibt oder nicht. Sie wollen um keinen Preis in ihre verarmten Heimatorte zurückkehren.

So gut wie jede Sphäre ihres Lebens untersteht der Kontrolle der Behörden: die Wohnerlaubnis im Ghetto, die Arbeitsgenehmigung, die Identitätskarte, die Erlaubnis, ihre Kinder zur Schule zu schicken, usw. Sie müssen ungemein vorsichtig sein, um das wenige, was die Stadt ihnen bietet, nicht aufs Spiel zu setzen.

Der Überlebenskampf ist in diesen Elendsquartieren dermassen mörderisch, dass es für "politischen Extremismus" keine Basis gibt. Die brotlosen Menschen wagen nur selten, Sympathie für radikale Lösungen zu äussern, besonders wenn es sich bei diesen um importierte, fremdländische Ideen handelt. Sie können es sich nicht leisten, Revolutionäre zu sein. Andererseits kann es in diesen öbidonvilles" zu Explosionen von Hass und Terror kommen, wenn die Brotlosen eines Tages gar nichts mehr zu verlieren haben. So war es 1965 in Casablanca.

"Der Mensch lebt nicht vom Brot allein", sagt ein Protagonist in einem der (auf französisch geschriebenen) Romane des marokkanischen Schriftstellers Driss Chraibis. Er konnte sich diese Formulierung leisten. Es war ja nur eine bildhafte Wendung, doch er konnte sie sich erlauben. Die Sozialisten konnten sich den Luxus gönnen, mehr als Brot zu benötigen. Hier, in den Elendsvierteln, gab es kein Brot. Nicht einmal einige Krumen.

Hier gab es nichts anderes als entwurzelte, unterdrückte Menschen, die mit etwas Glück überlebten, aber das war schon alles. Und die Kinder, diese Scharen von Kindern, die schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen waren, nackt, mit vom Hunger aufgedunsten Bäuchen und riesengrossen Augen, die im Unrat nach etwas Essbarem wühlten. Fanden sie einige Brotkrumen, so war dies eine Gabe Gottes. Anstelle solcher fanden sie politische Flugblätter.

 

Sie brachten Trachome und Staphylokokken mit nach Hause und legten jene Gottergebenheit an den Tag, welche die Ideologie der Erwachsenen ihnen eingeimpft hatte. In diesen Quartieren haben die Kinder, und jene, die auf die Heimkehr der Kinder warten, nur ein einziges Ziel: eines Tages sagen zu können, sie hätten genug Brot zum Leben gehabt.

Wenn man kein Brot fand, so fand man vielleicht Abfall, für den die Gesellschaft keine Verwendung gehabt hatte: rostige Konservendosen und alte, verrottete Papierschachteln. Aus den Papierschachteln wurden Wände und aus flachgedrückten Dosen Dächer. Aber alle diese lebenden Toten warteten auf eine revolutionäre Ideologie, welche sie in Krieger verwandeln würde. Sie sassen vor ihren elenden Schuppen, sahen die Sonne im Osten auf- und im Westen niedergehen und hörten das Geplärr aus dem Radio, das sie mit Mystizismus und Statistik, Produktionsnormen, Hymnen und allerlei Reklame für Waren überschütteten, die für sie so unerreichbar waren wie die Sonne.

Der Widerstand gegen den Kolonialismus wurde auf dem Land an allen Fronten geführt: politisch, kulturell und auch mit der Waffe. Die Nationalisten in den Städten verbreiteten ihre Ideen, gründeten Parteien, Zeitungen, Gewerkschaften und betrieben ideologische Propaganda. Der Widerstand wies hier "moderne", bürgerliche Formen auf und war von westlicher Denkweise beeinflusst. 1934 legten die Souassa im Atlasgebirge ihre Waffen nieder, um den Widerstand in anderer Form weiterzuführen, und viele beteiligten sich am ersten grossen Industriestreik von 1936. Hauptaktionsbasis für die Souassa war nun Casablanca, eine Stadt, die fast vollständig von Migranten aufgebaut war, unter denen die Berber vom Hohen Atlas und Antiatlas zahlreich vertreten waren. Und da Casablanca das kommerzielle und industrielle Zentrum des Landes war, galt die dortige politische Entwicklung als richtungsweisend für die Marokkos in seiner Gesamtheit.

Meine Mutter setzte mich also in den Bus nach Casablanca, wo mein Vater arbeitete. Nach einiger Zeit kehrte mein Vater nach Tafraoute heim, doch ich blieb zurück und arbeitete in verschiedenen Lebens- mittelläden für allerlei Leute, die mein Vater nicht kannte.

 

Ich war fünf oder sechs Jahre alt, und sie behandelten mich wie einen Sklaven. Um vier Uhr morgens wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Ich musste den Laden aufräumen und verteilte dann Zeitungen oder Milch an Leute, die in den vornehmsten Stadtteilen wohnten. Ich musste Dinge aufheben, die schwerer waren als ich. Eine Zeitlang war ich in einem Laden angestellt, der Chemikalien zur Textilienfärbung verkaufte. Vom Einatmen der Chemikalien wurde ich an der Luftröhre und der Lunge krank. Da wurde ich entlassen. Ich verdiente so gut wie nichts und arbeitete einzig und allein fürs Essen.

Als Kind wurde ich grausam behandelt. Vor allem Berberkaufleute, bisweilen sogar meine eigenen Stammesgenossen, nutzten mich aufs schlimmste aus, und ich musste Tag und Nacht wie ein Sklave schuften. Ich arbeitete im Laden und wohnte zugleich dort. Mein Schlafplatz lag unter dem Ladentisch. 1956 kam dann die "Selbständigkeit". Meine Eltern hielten sich in Tafraoute auf, während ich in Casablanca wohnte, bei meinem Bruder Mohamed, der schon ein Teenager war und ein kleines Geschäft eröffnet hatte. Doch nach ein paar Monaten fuhr er gleichfalls nach Tafraoute zurück, und ich musste bei anderen Menschen arbeiten.

Meine letzte Arbeit als Kind war bei einer jüdischen Familie, die in Casablanca einen Lebensmittelladen besass und sich auf die Ausreise nach Israel oder Kanada vorbereitete. Sie schickten eine Tochter nach Israel und einen Sohn nach Kanada, um die Lage zu sondieren. Bei ihnen entdeckte ich, wie hasserfüllt und rassistisch Juden gegenüber Moslems und Christen sind. Ich durfte nicht am selben Tisch wie sie essen. Sie betrachteten Nichtjuden nicht als Menschen.

Zu jener Zeit setzte ich mir in den Kopf, ich müsse zur Schule gehen und etwas lernen, und ich bat einen Vetter, mich ins Dorf heimzuführen. Mein Vater wurde sehr wütend. Er wollte unbedingt, dass ich als "Geschäftsmann" Karriere machte wie alle anderen aus unserer Gegend. Der Weg zu einer solchen Karriere lag darin, dass ich bereits als Kind in einem Geschäft arbeitete. "Du bist mir ein komischer Vogel", schimpfte er. Doch ich wollte um jeden Preis zur Schule, obgleich er beschloss, dass ich im Dorf oder in der Stadt arbeiten müsse und meinen Fuss nie in ein Klassenzimmer setzen dürfe.

 

Ohne meinen Vater um Erlaubnis zu bitten, ging ich dann rund 15 Kilometer zu Fuss nach Tafraoute und suchte den Gouverneur auf, den Kaiden, welcher der Verwaltungschef des Bezirks Tafraoute war. Sein Name war Hadj Ahmed Ougdourt. Er galt in ganz Marokko als Unikum. Hadj Ahmed Ougdourt hatte über 80'000 Menschen unter sich; mein Vater war als Schejk gleichfalls sein Untergebener. Zu diesem Mann ging ich also und sagte ihm, ich wolle zur Schule gehen, doch mein Vater sei dagegen.

Hadj Ahmed Ougdourt war beinahe Analphabet. Doch über sein Leben kursierten die wildesten Gerüchte, und sie waren märchenhaft. Während der Kolonialzeit hatte er sich so unbotmässig gezeigt, dass man ihn in Tafraoute hinter Schloss und Riegel setzte. Er kam eigentlich vom Stamm der Issy, der drei Meilen von Tafraoute entfernt lebte, und hatte früher ein kleines Geschäft in Rabat besessen. Im Gefängnis verhielt er sich stolz und hochmütig gegenüber dem französischen Hauptmann, dem "Qbtann", wie die Menschen diesen nannten (er war der Militärgouverneur in Tafraoute). Man erzählte, Hadj Ahmed Ougdourt habe als Gefangener zum Hauptmann gesagt: öWenn mein Land frei ist, werde ich hier an deiner Stelle der Chef!"

Damals wagte noch kaum einer zu hoffen, dass Marokko irgendwann einmal selbständig sein würde. Das Volk war so entmutigt und die Franzosen militärisch dermassen stark, dass nur wenige im innersten Herzen an einen Sieg über die Unterdrücker glaubte, aber Hadj Ahmed Ougdourt gehörte zu diesen wenigen. Seine einzige Ideologie und Stärke war der Glaube an den Koran. Wer keine höhere Macht anerkennt, lebt oft nach dem Gesetz des Dschungels. Doch für einen frommen Muselmanen muss Stärke auf Gerechtigkeit gründen und die Gerechtigkeit stark sein, damit man eine menschlichere Welt schaffen kann.

Als die Selbständigkeit dann tatsächlich gekommen war, liess man diesen Mann frei, und der neue marokkanische Gouverneur ernannte ihn zum Kaiden von Tafraoute. Er war kein Konformist, seinem Wesen nach ein Original, ein Widersacher jeder Ungerechtigkeit und ein scharfer Gegner aller Korruption.

 

Er mobilisierte flugs die Bevölkerung, um in jedem Dorf eine Schule zu errichten und Strassen zwischen den Dörfern zu bauen, und er liess Tausende von Olivenbäumen anpflanzen. Sogar das erste kooperative Unternehmen der Gegend ging auf seine Initiative zurück. Er achtete darauf, dass all dies ohne Befehle von oben zustande kam. Alle diese segensreichen Dinge entstanden dank seiner Initiative.

Die "Selbständigkeit" erwies sich als Betrug der Franzosen an den Marokkanern. Sie übergaben die Macht dem Sultan, zogen aber hinter die Kulissen weiterhin die Fäden und stellten ihm in Frankreich ausgebildete Offiziere zur Verfügung, die auch in der französischen Armee gedient hatten - Männer wie Oufkir und Dlimi beispielsweise mitsamt einer ganzen Armee, welche direkt aus der französischen hervorgegangen war. Die Polizei rekrutierte sich hauptsächlich aus Verrätern und Kollaborateuren, welche für die französischen Kolonialisten Handlangerdienste verrichtet hatten und sich nun auf wichtigen Posten einnisteten.

Die vielleicht einzige Ausnahme in ganz Marokko war der Kaid von Tafraoute, ein erklärter Widersacher der Kolonialherrschaft. Von ihm hiess es, er tanze zu einer anderen Musik als zu der des Sultans. Er zeigte uns, wie es zugegangen wäre, hätten wir eine echte Selbständigkeit erworben. Er hatte die Gabe, das Volk spontan zu mobilisieren und konnte die Leute dazu überreden, sich freiwillig zum Bau von Schulen oder Strassen zu melden, ohne dass es dazu einer Verwaltung oder eines Budgets bedurft hätte. War man mit dem Bauen fertig, schickte er einen Brief ans Erziehungsministerium in Rabat und teilte diesem mit, in der und der Ortschaft gebe es nun eine Schule und sogar Lehrer.

Der Kaid erweckte mit seinem eigenmächtigen Vorgehen Anstoss und Unruhe, und zwar sowohl bei den provinziellen Behörden in Agadir als auch bei den zentralen in Rabat. Er beging den Fehler, das Wort öSelbständigkeit" wörtlich zu nehmen. Er errichtete auch ein grosses Heim für elternlose und arme Kinder und liess sogar eine Schule für jene Kinder einrichten, die nicht auf die staatlichen Schulen gehen konnten. Dort meldeten sich 300 Schüler.

 

Ich war eines der Kinder, welche dank jenem Heim und dank der von Hadj Ahmed gebauten Schule zum Unterricht gehen konnten. Als Kind sah ich in ihm ein Vorbild und einen Helden. Er besass ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl und Sinn für Demokratie und Menschenrechte, nicht nur in seinen Worten, sondern auch in seinen Taten.

In Tafraoute gründete Hajd Ahmed ausserdem eine Kooperative, eine Fabrik, wo Dutzende von Frauen Arbeit fanden und wo man Teppiche herstellte. So etwas hatte es in unserer Gegend noch nicht gegeben. Auch eine Bibliothek war dort früher unbekannt, doch er sorgte dafür, dass wir eine bekamen. Er liess sogar die ersten "ffentlichen Toiletten im Zentrum von Tafraoute bauen, auf dem Marktplatz Souk Larbƒa. Die Leute dort hatten nie im Leben so etwas wie moderne Toiletten zu Gesicht bekommen. Sie verrichteten ihre Bedürfnisse irgendwo im Freien, aber nun strömten sie auf die funkelnagelneuen Toiletten.

Es war Mittwoch und Markttag. Bei der Einweihung der Bedürfnis- anstalt hielt der Kaid eine Rede. Nach kurzer Zeit merkte man, dass die Leute ihre Bedürfnisse überall auf dem Boden verrichteten, nur nicht über den Löchern, die eigens zu diesem Zwecke angebracht waren. Deswegen liess der Kaid die Menge am nächsten Markttag abermals versammeln und hielt wiederum eine Ansprache. Als tiefreligiöser Mensch begann er seine Ausführungen wie üblich mit einer Lobpreisung Gottes. Dann fuhr er fort: "Warum setzt ihr eure Löcher nicht auf die Löcher der Toiletten?" Wütend fuhr er fort: "Möge Gott euch den rechten Weg weisen!" und ging seines Weges.

Als Verantwortlichen der neuen Bibliothek im Zentrum von Tafraoute ernannte der Kaid einen Fqih, der in den fünfzigern stand. Dieser hatte nie im Leben ein anderes Buch gelesen als den Koran. Sein Name lautete Sidi Mahfoud. Als er in der Bibliothek andere, neue Bücher zu lesen bekam, wurde sein zuvor fester Glaube dadurch arg erschüttert. Er war unfähig, auf die vielen heiklen Fragen zu antworten, welche die Leser ihm in der Bibliothek stellten. Die dort ausliegenden Zeitungen kündeten von den zum Mond gesandten russischen Satelliten und von Gagarins Raumfahrt. Das Ganze begann Sidi Mahfous' intellektuelles Vermögen zu überschreiten. Nach ein paar Monaten erlitt er einen seelischen Kollaps. 30 An einem Markttag versammelte er mehrere hundert Personen ausserhalb der Bibliothek, um eine "wichtige" Rede zu halten. Er eröffnete seinen staunenden Zuhörern, dass er in der Nacht zuvor "mit Gottes Hilfe" ins All und zum Mond geflogen sei und dort unter anderem den Dämonen (öDjinnö) Jamharosh getroffen hatte.

Kaid Hadj Ahmed hatte für Scharlatane nichts übrig, selbst wenn sie einen seelischen Kollaps erlitten hatten. Er liess Sidi Mahfoud verhaften und für zwei Tage hinter Schloss und Riegel setzen, mit der Aufforderung, er solle doch Jamharosh aus dem Weltall herbeirufen, um seinen Astronauten zu befreien. Dann wurde der wackere Raumfahrer zur Pflege in eine psychiatrische Klinik in Agadir geschickt. Die Bibliothek wurde für zwei Monate geschlossen. Nach ihrer Wiedereröffnung - sie hatte nun einen neuen Leiter - getrauten sich viele nicht mehr dorthin, weil sie Angst vor dem Dämon hatten, der Sidi Mahfoud heimgesucht hatte.

Hajd Ahmed war ein durch und durch origineller Mensch, und was er für die Menschen der Gegend an Gutem tat, lässt sich gar nicht ermessen. Er brachte eine regelrechte Kulturrevolution zustande. Die ehemaligen Kollaborateure der Kolonialmacht schmähte er verächtlich als "Volksverräter" und "neue Kolonialisten". Sie bekamen bei ihm keine Privilegien wie anderswo, sondern mussten wie alle anderen Schlange stehen, wenn sie um eine Audienz bei ihm ersuchten. Eine solche Behandlung goutierten die Herren gar nicht, denn so etwas gab es sonst nirgendwo im Lande. Die Reichen waren daran gewöhnt, alles kaufen zu können, auch Beamte.

Überall anderswo in Marokko verkam die "Unabhängigkeit" zur Farce, zu einer Art Missgeburt. König Mohamed V war ein trojanisches Pferd der Franzosen. An die Stelle der französischen Herren traten Verräter und Neokolonialisten. Es wirkte so, als hätten sich die Franzosen bloss ihrer europäischen Kleider entledigt und stattdessen die "Djebella", die marokkanische Nationaltracht, angezogen. Die Polizei setzte sich beispielsweise immer noch aus den gleichen Beamten zusammen, die den Franzosen seinerzeit willfährig gedient hatten.

 

Alle Widerstandsorganisationen, die sich im Kampf gegen die Franzosen gebildet hatten, wurden nach und nach aufgelöst, und viele ihrer Mitglieder wanderten hinter Gitter. Mit Fug und Recht sagt der Koran: "Wenn Könige in einem Lande die Macht ergreifen, verderben und zerstören sie es und verwandeln seine freien Menschen in Sklaven. Dies tun sie fürwahr." Die heutige marokkanische Monarchie ist vom Kolonialismus geschaffen worden, nicht vom marokkanischen Volk. Der Islam verbietet nämlich die Monarchie als Staatsform.

Der Kaid von Tafraoute, Hadj Ahmed, konnte vier Jahre lang, von 1956 bis 1960, wirken, ehe der Gouverneur von Agadir ihn auf Geheiss des Königs absetzte. Ein Jahr später wurde er von Agenten des Monarchen ermordet, weil er sich nicht in das korrupte System einfügen liess. Der Kaid war ein Mitglied des Orchesters, doch störte er die Symphonie dadurch, dass er seinen eigenen Takt bestimmte. Darum wurde er seines Amtes enthoben und durch den Hampelmann Abdelaziz ersetzt, der zur Kolonialzeit Sekretär des französischen Militärgouverneurs gewesen war. Er war also ein typischer Verräter und eine Kreatur des alten und neuen Kolonialismus.

Dass mein Vater zum Shejk des Tahala-Stammes gewählt wurde, hatte er dem Kaiden Hadj Ahmed zu danken, der an die islamische Demokratie (öShoraö) glaubte. Anderswo im Land wurden die Shejks nicht gewählt, sondern durch die Provinzgouverneure eingesetzt. An einem Sonntag im Januar 1956, es war Markttag, versammelte der Kaid die Angehörigen des Tahala-Stammes zu einem Treffen auf dem Markt Souk Lhad, damit sie ihren Shejk küren sollten. Unter vielen Kandidaten wurde mein Vater gewählt. Als dieser mich anfang 1958 nicht zur Schule gehen lassen wollte, begab ich mich, wie früher berichtet, also zum Kaiden.

Ich war nur ein kleines Kind, aber er empfing mich. Einer der Knöpfe in meinem Hemd war anders als die übrigen. Der Kaid war ein Pedant und Perfektionist. Er kritisierte alles, was ihm nicht in den Kram passte und was er ändern wollte. "Wer hat bloss diesen Knopf angenäht?" fragte er mich. "Ich selbst, denn ich habe keinen passenden Knopf gefunden", antwortete ich.

 

"Dann musst du einen suchen. Man muss alles ordentlich machen, denn das hat der Prophet befohlen. Alles, was wert ist, dass man es tue, muss gut und sorgfältig getan werden." Er gab mir ein Büchlein mit einer Auswahl von Aussprüchen des Propheten (öHadithö) und fuhr fort: öMan soll nicht nur lesen und denken, sondern auch so handeln wie der Prophet Mohamed." Der Kaid sprach mit mir wie mit einem Erwachsenen. "Selbstverständlich gehst du mir zur Schule", sagte er. "Du kannst kostenlos im Waisenhaus wohnen." Er meldete mich für die Schule an. Mein Vater ärgerte sich nicht wenig darüber, konnte aber nichts tun, weil der Beschluss ja von seinem Vorgesetzten ausgegangen war.

Ich war vielleicht elf oder zwölf Jahre alt und damit mehrere Jahre älter als die anderen Schüler. Einen richtigen Schulranzen hatte ich auch nicht, sondern bloss einen geflochteten Sack, wie ihn die Frauen zum Einkaufen auf dem Markt verwendeten. Ich büffelte Tag und Nacht. Ich kaufte mir Stearinkerzen, damit ich nach dem Lichterlöschen, welches abends um zehn Uhr stattfand, noch weiter lernen konnte. Mit Hilfe zweier Kartons und meiner Decke baute ich mir eine Art Zelt ums Bett, wo ich meine Studien betreiben konnte.

Um vier Uhr früh mussten wir aus den Federn. Ein ehemaliger marokkanischer Unteroffizier der französischen Armee war im Internat für die Disziplin zuständig und regelte unseren Tagesablauf mit mililtärischer Präzision. Nach dem Aufstehen mussten wir uns vor dem Frühstück in eiskaltem Wasser waschen, und dann stand das Morgengebet auf dem Programm. Einige Schüler mochten sich im Winter nicht waschen, weil es so kalt war, und taten nur so, als wüschen sie sich. Einmal kam der Kaid morgens um halb fünf völlig überraschend in die Moschee und entdeckte, dass einige der Kinder ihre Schuhe anhatten, was man in einer Moschee nicht darf. Er war sehr zornig auf uns. Doch war er ein grossartiger Mensch, der mir unendlich viel bedeutete.

Nach nur einigen Wochen in der ersten Klasse durfte ich dank meinem unermüdlichen Fleiss, meinen Vorkenntnissen und meinem Alter gleich in die dritte Klasse aufrücken. Schon drei Monate später sass ich in der vierten und letzten Klasse. 33 Zu jener Zeit, es war Ende 1958, hiess der Erziehungsminister Mohamed el-Fassi. Er war Mitglied der Istqlalpartei und ein recht ordentlicher Mann. El-Fassi befürwortete eine rasche Arabisierung des Unterrichts und hatte beschlossen, die Kinder sollten den Unterricht in marokkanischer Geschichte und Geographie auf arabisch erhalten und nicht mehr auf französisch wie früher.

Der Haken war nur, dass es keine in arabischer Sprache ausgebildeten Lehrer für diese Fächer gab. Die Religionslehrer in den Moscheen hatten ja niemals Geschichte oder Geographie gelernt oder eine pädagogische Ausbildung in diesen Fächern erhalten. Wie konnten sie da anständigen Unterricht erteilen? Von Geschichte und Geographie hatten sie keine blasse Ahnung. Ihr Unterrichtsstil bestand darin, dass sie die Schüler bis zur Ermüdung wiederholen liessen, was sie vorne am Pult sagten.

Mein erster Geographieunterricht wurde von einem Lehrer namens Hadj Mohamed erteilt. Er stammte aus einem Dorf fünf Kilometer von Tafraoute. Trotz seines schlechten Augenlichts weigerte er sich strikt, eine Brille zu tragen, da er alles verwarf, was nicht von Gott geschaffen worden war. Beispielsweise lehnte er es strikt ab, Bus zu fahren, und ritt stattdessen auf einem Geschöpf Gottes zur Schule, nämlich einem Esel. Jeden Tag ritt er auf seinem Esel fünf Kilometer bis zur Schule. Er hängte eine Karte von Marokko an die Tafel und sagte dazu nur: öHier ist Marokko, wiederholt alle, hier ist Marokko. Hier ist Casablanca, sprecht mir nach, hier ist Casablanca. So hat Gott Marokko geschaffen, wiederholt das alle dreimal."

Auf diese Weise ging es weiter. Wir plapperten alles nach, was uns der Lehrer vorsagte. Während der Pausen neckten wir seinen Esel. Eines schönen Tages kam er aber ohne Esel zur Schule, und wir erfuhren, dass er geheiratet und dass seine Frau ihm ein Ultimatum gestellt hatte: Der Esel oder ich! Sie war jünger als er und eine Emanze. Rund einen Monat später kam er wieder zur Schule geritten. Er hatte sich für den Esel entschieden und sich von seiner Frau scheiden lassen.

 

Meine Zeit an dieser Schule dauerte nur zwei Jahre statt fünf, wie es üblich gewesen wäre. Man händigte mir ein Zeugnis aus, welches besagte, dass ich die marokkanische Grundschule (ö‚cole primaireö) absolviert hatte, und ich durfte meine Ausbildung fortsetzen. In Tafraoute gab es kein Gymnasium, nur in Tiznit, achtzig Kilometer weiter nördlich, und dort kostete der Aufenthalt im Internat Geld, während der Unterricht selbst kostenlos war.

Ich konnte also aufs Gymnasium gehen. Dieses dauerte sechs Jahre und zerfiel in zwei Stufen. Die erste, dreijährige Stufe ("‚cole secondaire") wurde mit einem Diplom (öbrevetö) abgeschlossen, die zweite, gleichfalls drei Jahre dauernde Stufe ("cours compl‚mentaire") mit dem Abitur ("baccalaur‚at"). In Tiznit gab es nur die erste Stufe. Wer auch die zweite absolvieren wollte, musste nach Agadir, 150 Kilometer nördlich von Tafraoute, oder nach Casablanca, 700 Kilometer weiter nördlich, ziehen.

Mein Vater sträubte sich auch weiterhin mit Zähnen und Klauen gegen meinen Schulbesuch, aber ich sprach wiederum mit dem Kaiden, der sich bereit erklärte, die 400 Dirham pro Quartal zu bezahlen, die das Internat in Tiznit kostete. Das war zu jener Zeit ein Haufen Geld, und er zahlte es aus seiner eigenen Tasche. Jeden Monat sandte er mir einen Brief, in dem er mich mahnte, recht fleissig zu lernen.

Als mein erstes Schuljahr in Tiznit zu Ende ging, wurde der Kaid abgesetzt. Wie sollte ich nun meine Ausbildung fortsetzen? Der Rektor, ein bösartiger und prügelfreudiger Franzose namens Pruvost, sagte mir, die einzige Möglichkeit, ein Stipendium zu erhalten, bestehe darin, einen Vertrag zu unterschreiben, in dem ich mich dazu verpflichtete, die ersten drei Jahre auf dem Gymnasium abzuschliessen und dann als Lehrer an der Grundschule ("‚cole primaire") zu arbeiten. Dies bedeutete aber, dass ich die oberen drei Gymnasialklassen nicht besuchen und somit kein Abitur machen konnte. Ich wollte nicht in diesen Vorschlag einwilligen, aber er wurde zornig und zwang mich dazu.

 

Kleine Kinder zu unterrichten war nun wirklich nicht das, was mir vorschwebte. Ich wollte Nasser nacheifern und wie er für die Freiheit und gegen die sozialen Ungerechtigkeiten kämpfen, indem ich die Monarchie stützte. So unterzeichnete ich zwar wie verlangt den Vertrag, nahm mir aber heimlich vor, der Schule in Tiznit zu gegebener Zeit den Rücken zu kehren.

Wegen all des Unrechts, das ich als Kind miterleben musste, reifte ich schon frühzeitig. Ich entwickelte ungewöhnlich früh ein politisches Bewusstsein und nahm bereits zur Schulzeit in Tiznit eine ganz klare politische Stellung ein. Ich hatte von den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten nicht in Büchern gelesen, sondern sie am eigenen Leibe erfahren.

Dass Hadj Ahmed am Ende meines ersten Schuljahres seines Amtes enthoben wurde, habe ich bereits erwähnt. Er starb ein paar Jahre später unter ungeklärten Umständen in seinem Dorfe Issy, vierzig Kilometer südlich von Tafraoute. Die Leute erzählten sich, die Agenten des Königs seien hinter dem Mord gestanden. Auf lokaler Ebene war Hadj Ahmed für mich ein Beweis dafür, dass es möglich ist, sich tatkräftig für soziale Gerechtigkeit und Demokratie einzusetzen.

Was die landesweite und die internationale Politik betraf, war mein Vorbild aber Nasser. Er bezeugte durch seine Taten, dass es möglich ist, den Kolonialismus und den Neokolonialismus zu überwinden und die Monarchie zu zerschlagen, welche die Spitze eines morschen und tyrannischen Systems bildet. Die politischen Parteien Marokkos sind ein Teil dieses Systems. An ihrer Spitze steht eine korrumpierte Elite, die selbst kulturell und intellektuell kolonisiert und verdorben ist. Wenn ich in Tafraoute am Rundfunk Nassers politischen Reden in der Sendung "Stimme der Araber" von Kairo lauschte, verspürte ich, dass dieser Mann meine eigenen Ideen ausdrückte, dass sein Traum auch meiner war und dass er der geborene Führer der Araber und Muselmanen war. Bereits damals fühlte ich, dass ich, obwohl noch ein Kind, mit Nasser für eine gerechtere Gesellschaft und für eine bessere Zukunft kämpfen, also die Welt verändern musste.

 

Aber wie? Zuerst musste ich eine gründliche Ausbildung erlangen, wie mein Idol und Führer Nasser, dachte ich. Doch der Besuch des Gymnasiums in Tiznit befähigte mich lediglich dazu, Grundschullehrer zu werden. Dadurch wurden meine Chancen zur Verwirklichung meines Traums und zu einem grossen Einsatz für mein Vaterland empfindlich geschmälert.

Ich fühle mich als Weltenbürger. Ich bin gegen engstirnigen Nationalismus, besonders wenn er aggressiv und rassistisch ist. Der Nationalismus ist eine notwendige Waffe im Kampf zur Befreiung seines Landes oder Volkes, doch dann sollte man ihn über Bord werfen. Der aggressive und rassistische Nationalismus, der in Europa die Grundlage für Chauvinismus, Expansionismus und Völkerhass gebildet hat, ist widernatürlich und schimpflich.

Meine Bewunderung für den Kampf, den Nasser in Úgypten führte, war für mich gleichbedeutend mit einer frühzeitigen Überwindung eines engen marokkanischen Nationalismus. Mit der damals erworbenen Einstellung fühlte ich mich nicht als Fremdling, als ich später nach Schweden kam. Ich bin in allererster Linie ein Mensch, und dem Kampf für den Menschen gilt mein ganzes Dasein.

Da ich mit dem despotischen Rektor, der mich nur drei Jahre lang aufs Gymnasium gehen lassen wollte, nicht vernünftig reden konnte, beschloss ich in aller Heimlichkeit, einen kleinen Coup zu unternehmen. Der französischer Rektor war ein durch und durch widerwärtiger Geselle und prügelte die Kinder mitleidlos. Diesem Kerl wollte ich einen Streich spielen. Doch zuvor brauchte ich mein Diplom, welches bewies, dass ich zwei Jahre lang die untere Gymnasialstufe besucht hatte.

Eines schönen Tages im Oktober 1960 sagte ich dem Lehrer, ich wolle im Klassenzimmer sauber machen. Ich bekam die Schlüssel zum Schulsaal und ging zu einem Schrank, der die Dossiers mit unseren Zeugnissen enthielt. Ich nahm meine Papiere heraus, und am Tag darauf stieg ich sehr zeitig auf und sagte der Schule auf Nimmer- wiedersehen. In der Tasche hatte ich keinen roten Heller, doch nahm mich ein Buschauffeur, der meinen Vater kannte, nach Casablanca mit.

 


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Der Neokolonialismus

Schon bevor die Franzosen die Widerstandsbewegung auf dem Lande zerschlagen hatten, war die Vorstellung eines selbständigen Marokkos bei den Intellektuellen in den Städten populär. Zu Beginn der fünfziger Jahre konnten die französischen Besatzungsbehörden den Traum von der Freiheit nicht mehr wirksam unterdrücken, obgleich sie fleissigen Gebrauch von bewährten Repressionsmitteln wie Gefängnis, Verbannung und Pressezensur machten.

Ein letzter, verzweifelter Versuch, die Kontrolle über das Land wiederzugewinnen, bestand in der Verbannung des Sultans Mohamed V, den man der Unterstützung der Nationalisten bezichtigte. Diese Massnahme führte zu massiven Protesten und zog eine Reihe von Terroranschlägen in den Städten sowie auf dem Lande nach sich (es gab zwei kleine Untergrundbewegungen). Die von "bürgerlichen" Kräften beherrschte Istiqlal (Unabhängigkeitspartei) versuchte die nationale Woge zu kanalisieren. Sie forderte die Selbständigkeit, aber öunter Beibehaltung enger Beziehungen zur Metropole" (Paris). Ferner verlangte die Partei die Einführung der Demokratie bei gleichzeitiger Rückkehr des Sultans auf den Thron.

Nach zwei Jahren wachsender Proteste schlugen die Franzosen urplötzlich eine neue Taktik ein, und Marokko wurde unter der Führung des Palastes formal unabhängig. Zu jenem Zeitpunkt stand Frankreich wegen einer Reihe von Befreiungskriegen in verschiedenen Teilen seines Imperiums unter härtestem Druck. Der Krieg in Indochina hatte die französische Armee demoralisiert. 1954 fiel Dien Bien Phu, und gleichzeitig steigerten die nationalen Bewegungen in Marokko, Tunesien und nicht zuletzt Algerien ihre Aktivitäten.

An all diesen Fronten zugleich Krieg zu führen war nicht möglich. Frankreichs Anerkennung der marokkanischen Selbständigkeit im Jahre 1955, auf die im Jahr darauf die offizielle Unabhängigkeit folgte, zog zwei weitere Niederlagen für den Kolonialismus nach sich: die Selbständigkeit Tunesiens und das Genfer Indochina-Abkommen.

 

Für Paris galt es, die enormen französischen Kapitalinvestitionen in Marokko zu schützen und gleichzeitig alle Kräfte auf die Unter- drückung der erstarkenden Widerstandsbewegung in Algerien zu konzentrieren.

Vor der Kolonialzeit wurde Marokko von Sultanen regiert, die von einer Gruppe von "Ulama" (Religionsgelehrten; der Singular des Wortes lautet "Alimö) gewählt wurden. Marschall Lyautey, früherer Militärkommandant in Marokko und überzeugter Monarchist, wandelte das Sultanat in eine Monarchie europäischen Zuschnitts und den Sultan in einen König französischen Stils um. Der islamischen Lehre nach ist die Monarchie verboten. Der erste Schritt zur Kolonialisierung Marokkos bestand in der Errichtung dieser Staatsform, und dazu wurde ein Protektoratsabkommen zwischen Marokko und Frankreich unterzeichnet. Die Bauern erhoben sich und umzingelten die Stadt Fes, wo der Sultan damals residierte. Nun marschierte die französische Armee in Marokko ein, um die gefährdete Monarchie zu retten. Parallelen zum sowjetischen Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979 sind da ganz offenkundig.

Die Kolonialzeit dauerte in Marokko 45 Jahre. Als sich der französische Kolonialismus ernsthaft bedroht sah, stützte er sich auf die Monarchie, um eine neokolonialistische Ordnung mit neuen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Formen zu errichten. Das öProtektorat" blieb so gewissermassen bestehen, aber im Rahmen einer öneuen Weltordnung", wo die Grossmächte sich direkte militärische Interventionen sparen können, solange lokale Laufburschen wie Hassan II, Najibullah oder Pinochet ihre Geschäfte verrichten.

Nach der Selbständigkeit konzentrierte König Mohamed V, ehemaliger Sultan, alle Macht in seinen Händen. Er hielt die bürgerlichen Politiker fest im Griff, indem er allgemeine Wahlen in Aussicht stellte, sobald das Land "reif" sei. Manchmal köderte er sie auch, indem er ihnen einen Platz in seiner Regierung einräumte. In Tat und Wahrheit änderte sich herzlich wenig an der alten Kolonialordnung. Sie wurde nur mit einer nationalen Fassade versehen. 1958, drei Jahre nach der Unabhängigkeit, standen weiterhin französische Richter an der Spitze der Gerichte.

 

Französische und jüdische Offiziere hatten Schlüssel-positionen in der Armee inne; französische Grossgrundbesitzer sassen unangefochten auf ihren Gütern; französische Wirtschaftskapitäne leiteten fast den gesamten modernen Industriesektor: Transport, Bergwerke, verarbeit- ende Industrie, Tagespresse, Banken, Ernährungs-industrie usw.

Der Handel floss weiterhin in Richtung Frankreich. Wie früher bildeten Orangen und Phosphat unsere Hauptexportgüter. Kostbare Devisen, die man zur Entwicklung einer industriellen Infrastruktur benötigt hätte, wurden stattdessen für den Import von Landwirtschafts-produkten wie Weizen und Zucker vergeudet, die man ohne weiteres selbst hätte anbauen sollen. Stattdessen wurde die Landwirtschaft einseitig auf den Export ausgerichtet. Ferner wurden Devisen in grossem Ausmass für den Kauf von Luxusartikeln für eine wachsende Oberschicht einschliesslich der zahlreichen Ausländer verschleudert.

Die Istiqlalpartei arbeitete praktisch mit dem Palast und ausländischen Kapitalinteressen zusammen, um die bestehende Ordnung aufrecht- zuerhalten. Viele unabhängige Gruppen, die während des Befreiungs- kampfes entstanden waren, gerieten unter staatliche Kontrolle. Die bürgerlichen Politiker erwiesen sich als gänzlich unfähig, der Monarchie die Macht zu entreissen.

Mit der durch wachsende Kapitalflucht nach der Selbständigkeit erzeugten Wirtschaftskrise nahmen die Streiks an Häufigkeit und Heftigkeit zu. Die städtischen Arbeiter, welche das Rückgrat der Frei- heitsbewegung gebildet hatten, waren bereit, dafür auf die Barrikaden zu gehen, dass sich die Unabhängigkeit nicht in einer nationalen Fassade erschöpfte. Die Antwort der bürgerlichen Parteien bestand darin, Streikbrecher unter Polizeischutz einzusetzen. So wandten sich die Gewerkschaftsführer mehr und mehr von der Istiqlal ab. Schliesslich kam es zur Spaltung der Partei, und der linke Flügel nannte sich fortan UNFP (Union Nationale des Forces Populaires). In Wahrheit waren aber diese innerparteilichen Kämpfe keinesfalls ideologischer Natur. Es handelte sich um einen reinen Machtkampf, den der König selbst sowie sein Kronprinz Hassan, der heutige König Hassan II, angezettelt hatte, um eine Partei zu spalten, welche den Machtanspruch der Monarchie hätte in Frage stellen können.

 

Der "linke" Parteiflügel, aus dem die UNFP hervorging, bestand auch aus Opportunisten und Postenjägern, die freudig mit der Monarchie zusammenarbeiteten, wenn sie einige Brosamen vom königlichen Tisch zugeworfen bekamen.

Während geraumer Zeit gelang es dem Palast, die neuen, "militanten" Führer der Linken für sich zu gewinnen, indem er ihnen einige wichtige Posten in einer neuen königlichen Regierung anbot, die im Dezember 1958 gebildet wurde. Abdallah Ibrahim von der UNFP wurde Premierminister. Doch die Schlüsselpositionen wie das Innen- und Polizeiministerium sowie das Verteidigungsministerium blieben unter königlicher Kontrolle. Ausgerechnet zur Zeit jener UNFP-Regierung warf der damalige Kronprinz Hassan, dem die Armee unterstand, den Volksaufstand in der Rif-Gegend nieder, wobei Tausende von unschuldigen Menschen in unzähligen Dörfern jenes Gebiets abge- schlachtet wurden.

Einige Monate darauf ging es der UNFP selbst an den Kragen. Ihre Zeitungen wurden verboten, viele ihrer Funktionäre wanderten hinter Schloss und Riegel, und Ben Barka, der sich gerade im Ausland befand, durfte nicht nach Marokko zurückkehren, da man ihn beschuldigte, sich an einer Verschwörung gegen Kronprinz Hassan beteiligt zu haben. Ben Barka war Hassans Mathematiklehrer. Er trug wesentlich dazu bei, der Monarchie einen Anschein von Legitimität zu verleihen, indem er als Wortführer in der ersten "konsultativen Versammlung" des Landes (einer Art Scheinparlament ohne konkrete Befugnisse) vorschlug, Mohamed I solle doch Prinz Hassan zum Kronprinzen ernennen. Dabei war Marokko nie eine erbliche Monarchie gewesen! 1960 löste der König die Regierung auf und übernahm den Posten des Regierungschefs selbst.

Der Palast war gegen eine Entwicklung der Industrie und einen Ausbau der Städte, denn beides hätte dazu führen können, dass sich die soziale Basis für die Antimonarchisten verbreiterte. Ferner hätte es eine Stärkung des nationalen Flügels innerhalb des marokkanischen Bürgertums bewirken können.

 

Dies alles hätte wohl die Forderung nach einem echten Pluralismus und Parlamentarismus nach sich gezogen, und die Macht des Hofs wäre in Gefahr geraten. Aus diesen Gründen optierte der König für eine Politik, die darauf abzielte, auf dem Land grosse und kostspielige Projekte zu verwirklichen, welche den Einfluss der feudalen Gross-grundbesitzer auf Kosten der Kleinbauern stärkte.

Mächtige neue Dämme und Bewässerungsanlagen verschafften dem ländlichen Proletariat zeitweise Arbeit, doch waren sie fertiggebaut, so profitierten hauptsächlich die Grundeigentümer davon. Sie konnten nun nämlich auf grösseren und fruchtbareren Úckern Exportprodukte anbauen.

Das europäische Grosskapital war mit diesem Programm hoch- zufrieden. Es hatte in Marokko drei hauptsächliche Interessen: einen Strom billiger Arbeitskräfte in die europäischen Industriestaaten, einen nahen Absatzmarkt für seine Industrieerzeugnisse sowie den Schutz bereits getätigter Investitionen. Zudem wurde der Tourismus ziel-strebig gefördert, und dieser wurde zum zweitwichtigsten Investitions-objekt. Er stimulierte den Bau von Hotels, die Produktion von Air- conditioning-Geräten, die Errichtung von Flugplätzen, die Herstellung von Bussen usw.

Das königliche Wirtschaftsprogamm wurde auch von anderen bedeutsamen Mächten voll und ganz unterstützt: von der französischen wie der amerikanischen Regierung, von französischen Industriellen- kreisen sowie nicht zuletzt von internationalen Finanzorganisationen wie der IMF und der Weltbank.

Im Februar 1961 starb König Mohamed V. Nun ging die Macht auf Hassan II über, der sich selbst zum König ausrief. In der ersten Hälfte des Jahres 1962 rückte der Sieg der Revolution in Algerien in greifbare Nähe, und in Marokko wuchs der Enthusiasmus für die Bildung eines freien und vereinigten Maghreb-Staates, der Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen umfassen sollte. Im Mai 1962 kehrte Ben Barka zurück und machte sich zum Wortführer der Bestrebungen, die darauf abzielten, den verlorenen Einfluss der UNFP wiederzugewinnen, vor allem auf dem Land.

 

Der Palast antwortete mit allerlei Manövern, um die politische Initiative selbst zu übernehmen. Er entwarf eine neue Verfassung, die dem Volk vorgelegt werden sollte. Die Abstimmung wurde auf den Dezember 1962 festgelegt. Sie war durch und durch manipuliert. Ben Barkas Partei rief zum Boykott auf, hatte damit aber keinerlei Erfolg: die Verfassung wurde von einer auf eine bessere Zukunft hoffenden, in Armut lebenden Bevölkerung , die nichts von wahlpolitischen Raffinessen, Abstimmungsmanipulationen und Wahlfälschungen wusste, "mit überwältigendem Mehr" angenommen.

Der Sommer 1962 war die politisch aufregendste Zeit seit der Unabhängigkeit. In verschiedenen ländlichen Gebieten übernahmen die Bauern das Land für sich selbst. In den Städten folgte eine politische Kampagne und eine Demonstration auf die andere. Die tollsten Gerüchte kursierten über eine mit algerischer Hilfe zu erreichende bevorstehende Befreiung Marokkos.

Der Palast reagierte mit offener Repression. Hunderte von UNFP- Funktionären wurden festgenommen; viele wurden gefoltert und zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Ben Barka wurde, als er sich im Ausland aufhielt, die Heimkehr abermals verweigert. Nur die Studenten setzten ihre Proteste fort. Immer wieder forderten sie das Regime mit ihren Streiks, Demonstrationen und Protesten heraus. Im März 1965 gelang es den Studenten, die Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen, und es kam zu Tumulten, welche die grössten Städte des Landes, vor allem Casablanca, tagelang erschütterten. Doch die Schwäche der Opposition erleichterte den königlichen Sicherheitskräften die brutale Nieder- schlagung des Aufstands.

Etwa einen Monat später fiel Ben Barka in Frankreich einem Mordanschlag zum Opfer. Man nahm allgemein an, dass das Attentat auf das Konto des marokkanischen Königshofs ging, der mit dem Mossad sowie der französischen Staatspolizei zusammenarbeitete. In Marokko begann nun ein langer politischer Winter; für Aufregung sorgten nur die regelmässig wiederkehrenden Studentendemonstra- tionen sowie die Gegenschläge des Regimes. Erst 1970 setzte ein Tauwetter ein.

 
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Ein junger Freiheitskämpfer

Als ich das erste Mal nach Casablanca kam, musste ich wie ein Sklave schuften: ohne Lohn, ohne anständigen Ort zum Schlafen, ohne Freunde, ohne irgendwelche Menschenrechte. So wie mir erging es Millionen von Kindern im ganzen Land. Nun sah ich die Stadt wieder, aber diesmal wollte ich zur Schule gehen. Ich traf nachts ein, und es gab keinen Ort, wo ich wohnen konnte. So schlief ich auf der Strasse, indem ich meine Tasche als Kissen benutzte. Ich muss damals 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein.

Am folgenden Morgen begab ich mich zu einem bekannten, wohlhabenden Mann, der sich während des Zweiten Weltkriegs auf dem schwarzen Markt eine goldene Nase verdient hatte. Er stammte aus Souss und konnte weder lesen noch schreiben. Ich hatte vernommen, es gebe in Casablanca ein Internat für heimatlose Kinder, und der betreffende Geldsack sitze im Vorstand des Vereins, dem das Internat gehörte. Er hiess Hadj Abd und war ein typischer Vertreter der parasitären Schicht von Neureichen.

In Souss wussten alle, wo sein Haus in Casablanca lag. Dorthin ging ich also und klopfte an die Tür. Ich sagte, ich sei ein heimatloses Kind und wolle gerne weiter zur Schule gehen, besitze aber keinen roten Heller. Hadj Abd wunderte sich nicht schlecht. Wir sprachen zunächst zusammen ein Gebet; anschliessend eröffnete er mir, es gebe seines Wissens im Internat keinen freien Platz mehr, doch gab er mit einen Wisch mit und schickte mich mit diesem zum Internatsleiter.

Ich wurde wider Erwarten aufgenommen, musste aber auf dem Boden schlafen. Trotzdem war ich überglücklich. Das Essen war miserabel und die hygienischen Zustände kläglich. Ich kam zu zwei anderen Schülern ins Zimmer. Der eine hiess Adel. Sie gaben mir eine Decke, in die ich mich beim Schlafen auf dem Fussboden wickelte. Eine Woche später wurde mir ein Bett zugewiesen. Nun gab es also einen Ort, wo ich schlafen und essen konnte. Als nächstes machte ich mich auf die Suche nach einem Gymnasium, das bereit war, mich aufzunehmen.

 

Ich suchte ein grosses Gymnasium auf, das nach dem damaligen Kronprinzen "Lyc‚e Moulay Hassan" benannt war. Da ich die nötigen Unterlagen vorweisen konnte, liess man mich zum zweiten Jahreskurs zu. Die Lehrer waren unter aller Kritik, und ich merkte bald, dass der Unterricht für mich nur Zeitverschwendung war. Deshalb studierte ich Tag und Nacht auf eigene Faust. Die anderen Kinder waren acht Jahre lang auf die gewöhnliche Schule gegangen und hatten es deswegen nicht so eilig wie ich. Im Gegensatz zu den Kindern aus reichen Familien ging ich nun nicht zur Schule, weil ich musste, sondern weil ich wollte. Ohne Abitur (Baccalaur‚at) sah ich für mich keine Sicherheit und Zukunft. Es war geradezu eine Existenzfrage für mich, dass ich das Abitur schaffte.

Dies war im Schuljahr 1960/61. Ich wollte das Abitur so rasch wie möglich bestehen. Deswegen bereitete ich mich privat auf die Prüfung vor. Eigentlich hätte ich noch volle fünf Jahre lang zur Schule gehen müssen, doch schon nach einem Schuljahr fühlte ich mich reif für die Abschlussprüfung. Deshalb reichte ich beim Erziehungsministerium einen Antrag auf Zulassung zur Abiturprüfung als Privatstudent ein. Dem Ersuchen wurde stattgegeben. Sobald das Schuljahr zu Ende war, durfte ich an der Prüfung teilnehmen, und zu meiner grossen Überraschung schaffte ich sie auf Anhieb.

Meine Klassenkameraden hatten nun noch vier Schuljahre vor sich. Nach zwei Jahren Lehrerseminar wurde ich anno 1963 Gymnasial- lehrer. Über eine allzu lange Schulzeit konnte ich mich wahrlich nicht beschweren, denn ich hatte insgesamt ganze drei Jahre lang die Schulbank gedrückt und dabei die Anfänger-, Mittel- und Gymnasialstufe absolviert. Nach weiteren zwei Jahren hatte ich auch eine akademische Ausbildung, das Lehrerseminar, hinter mir.

Wohl nahmen mich meine Studien auf dem Gymnasium und am Lehrerseminar sehr in Anspruch, doch las ich gleichzeitig viel über Politik. Manche der damals verschlungenen Bücher prägten mich stark und vertieften mein Bewusstsein. Ich las den Koran und einige Bücher von Nasser (Revolutionsphilosophie), Chakib Arsalan (öWeshalb sind die Muslime heute unterentwickelt?ö) sowie Khalid Mohamed Khalid (öBürger, nicht Sklavenö).

 

Zudem führte ich mir zahlreiche Schriften über Nasser, Ben Bella, Abdelkrim al-Khatabi, Abdelkader al-Jazairi etc. zu Gemüt. Ich sass auch oft vor dem Radio und hörte die "Stimme der Araber" aus Kairo; der marokkanische Rundfunk war in meinen Augen bloss ein Instrument zur Verbreitung heuchlerischer Lügenpropaganda.

Einen nachhaltigen Eindruck hinterliess auf mich auch Victor Hugos grosser Roman "Les Mis‚rables", weil ich mich selbst als eine Art Stiefkind des Schicksals betrachtete. Doch rührt Hugos Buch lediglich zu Tränen, ohne eine Lösung anzubieten oder Hinweise darauf zu vermitteln, wie man die sozialen Ungerechtigkeiten beseitigt, welche Stiefkinder des Schicksals wie mich erzeugen. Die grösste Inspiration bedeuteten für mich der Koran , das kleine, mir seinerzeit vom Caiden zum Geschenk überreichte "Hadithö-Buch sowie Nassers Revolution gegen Tyrannei, Kapitalismus und Kommunismus.

Doch nun war die ganze politische Elite, die der Kolonialismus in Marokko herangezüchtet und ausgebildet hatte, in ideologischer und politischer Richtung westlich geprägt. Deshalb waren alle von dieser Elite nach der Unabhängigkeit gegründeten Parteien westlich: liberal, kapitalistisch oder marxistisch. Als Folge dieser Entwicklung gab es keine selbständige islamische Bewegung und auch keine islamistische Partei. Wir sahen uns der Tatsache gegenüber, dass es dem französischen Kolonialismus zumindest vorläufig gelungen war, uns seine kulturelle, sprachliche und ideologische Vormundschaft aufzu- zwingen.

Alle zugelassenen, "gemässigten" marokkanischen Parteien sind eine Art Importware aus Frankreich. 45 Jahre französischer Herrschaft liessen mehrere frankophone Generationen entstehen, welche das Gedankengut des Kolonialismus weiterführten. Nach der Erlangung seiner Selbständigkeit benötigt Marokko deshalb weitere 45 Jahre, um das geistige Joch des Neokolonialismus abzuschütteln und eine befreite, wahrhaftig unabhängige islamische Gesellschaft zu schaffen, die in kultureller, ideologischer und politischer Hinsicht unsere eigenen Werte und Traditionen verkörpert.

 

Dies alles empfand ich, als ich begann, auf islamischer Grundlage für Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu kämpfen. Alle legalen Parteien und Organisationen wurden von wohlhabenden, privilegierten Leuten mit neokolonialistischer Mentalität sowie von deren Kindern geführt, die sich zum Marxismus oder Liberalismus bekannten!

1960 trat ich der politischen Studentenorganisation UNEM (Union Nationale des Ætudiants du Maroc) bei. 1961 wurde ich Mitglied der UNFP, obschon mir klar war, dass die Parteiführung aus Opportunisten bestand. Es gab einfach keine Alternative. Im darauffolgenden Jahr, also 1962, hielt ich meine erste politische Rede, und zwar bei einer grossen Versammlung an der Messe von Casablanca. Wie bereits früher erwähnt, hatte der König dem Volk eine neue Verfassung vorgelegt, und das Volk sollte diese nun gutheissen oder verwerfen. Das Ganze war eine reine Farce, und ich sprach mich für einen Boykott aus. Wir wollten eine vom Volk und nicht vom Monarchen gewählte Versammlung. Garantien gegen Wahlbetrug gab es keine.

Zum ersten Mal wurde ich als militantes Basismitglied der UNFP verhaftet, während einige Männer aus der Führungsspitze der Partei gleichzeitig im Palast sassen und im wahrsten Sinne des Wortes mit dem König Poker spielten. Am Tag nach meiner Rede sass ich als Parteivertreter in Maƒrif, einem Stadtteil von Casablanca, um die Wahl zu überwachen. Ich hatte recht viel über wahltechnische Fragen gelernt und kannte die Regeln.

Am Abstimmungstag selbst durfte keine Propaganda gemacht werden, doch in der Schule, wo das Wahllokal für unseren Bezirk eingerichtet war, galt diese Regel nicht - wie auch in den anderen Abstimmungslokalen des Landes. Auf dem Schulhof stand eine lange Reihe von Menschen, die abstimmen wollten, aus lauter Furcht vor einer Bestrafung, wenn sie dem König ihre Stimme verweigerten. Die meisten waren Analphabeten. Ca. 70% der marokkanischen Bevölkerung können weder lesen noch schreiben. Deshalb war das Ja und das Nein jeweils durch eine Farbe gekennzeichnet.

 

Die weisse Farbe stand für das Ja. Auf Arabisch heisst verwenden wir für "weiss" dasselbe Wort wie für "Ei", nämlich "beda". Ich sah einen Polizisten in Zivil, der auf dem Schulhof umherging, während die Leute Schlange standen, und dabei Eier verteilte. Dabei ermunterte er sie, öweiss" zu stimmen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass eine solche Wählerbeeinflussung am Abstimmungstag nicht gestattet war. öWenn du so weitermachst", rief ich, "dann hole ich Brot und schneide es für das Volk" (das Verb für "schneiden" wird im Arabischen auch für "boykottieren" benutzt).

Nach einer Weile tauchten zwei weitere, ebenfalls in Zivil gekleidete Polizisten auf und nahmen mich fest. Auf dem Polizeiposten machten sich die Bullen über mich lustig, weil ich die Wahlen ernst nahm. Drei Tage lang blieb ich in Polizeigewahrsam. Man misshandelte mich, unter anderem, indem man elektrische Kabel um meine Finger wickelte und Stromstösse hindurchjagte. Die Misshandlung von Verhafteten ist bei der marokkanischen Polizei gang und gäbe.

Die UNFP-Sektion, der ich angehörte, war im Stadtteil Derb Ghalef in Casablanca beheimatet. Allerdings lag ich ideologisch nicht auf der Parteilinie. Ich war in allererster Linie Islamist, d.h. ich wollte mich für einen Staat einsetzen, der für Panislamismus und Panarabismus, für islamische Werte und für politische wie wirtschaftliche Demokratie stand. Für letztere verwenden wir den Begriff "shoran".

Diese Punkte standen nicht im UNFP-Programm. Die Partei war nicht eindeutig sozialistisch, nicht eindeutig panarabisch und nicht eindeutig islamisch. An ihrer Spitze stand eine getarnte marxistische Elite. Die Partei war als Kompromiss zwischen verschiedenen Personen aus verschiedenen Interessengruppen entstanden. Ihr gebrach es an einer klaren ideologischen Linie, und doch genoss sie eine gewisse Unterstützung durch das Volk, weil es einfach nichts Besseres gab.

Andererseits war diese vage ideologische Ausrichtung auch eine Stärke. Im Grunde genommen war die UNFP eher eine Front als eine Partei. Die Ideologie der marokkanischen Eliten ist von Heuchelei und Opportunismus geprägt.

 

1963 wanderte der gesamte nichtmarxistische Teil der Parteiführung auf Geheiss des Königs hinter Gitter, worauf die Kommunisten das Szepter übernahmen und die UNFP zu einer reinen Kommunistenpartei wurden, genau wie es der König bezweckt hatte. Ich war gegen den Kommunismus und die Kommunisten, die bloss das sowjetische System kopieren wollten, folglich antiislamisch waren, unsere eigene Kultur zerstören und die bestehende Diktatur durch eine noch schlimmere ersetzen wollten. Die Tragödie, die sich später in Afghanistan ereignet hat, illustriert die Ziele und Methoden der Kommunisten sehr anschaulich.

Schon als Kind geriet ich durch die Sendungen von Radio Kairo (öStimme der Araberö) in Berührung mit den Gedanken Nassers. Ich hörte von jenem ägyptischen Offizier, der mit Unterstützung des Volkes König Faruk gestürzt, die Monarchie abgeschafft und den Engländern die Stirn geboten hatte. Vor Nasser war die arabische Welt unter Engländern und Franzosen aufgeteilt, aber nun hörten wir zum ersten Male eine arabische Stimme, die Stimme eines Mannes, der weder für den Osten noch für den Westen war, sondern für wahhaftige Unabhängigkeit stand. "Die Hauptstadt Úgyptens ist weder London noch Paris noch Washington, sondern Kairo", sagte Nasser.

Die ägyptische Revolution hatte im Juli 1952 stattgefunden, in jenem Jahr, als ich das erste Mal nach Casablanca kam. Im gleichen Jahr brach auch ein Streik in Tunesien aus, in dessen Folge die Franzosen den tunesischen Führer Farhat Hachad umbrachten. Diese Ereignisse erregten in Marokko beträchtliches Aufsehen, weil sie bewiesen, dass es doch noch Leute gab, die es wagten, sich den Kolonialherren entgegenzustellen. Die ägyptische Revolution war dabei der zündende Funke!

Ich bewunderte Nasser vor allem deshalb, weil er 1956 den Suezkanal nationalisiert und dann Widerstand gegen die englisch-französisch- israelische Aggression geleistet hatte. Doch ging meine Bewunderung auch darauf zurück, dass er mit der verrotteten Monarchie in seinem Land Schluss gemacht hatte. Mir schien es durchaus möglich, diesem Beispiel in Marokko zu folgen.

 

Wir Jugendlichen stützten uns zur Gewinnung von Informationen über Nassers Ideengut hauptsächlich auf die Sendungen von "Stimme der Araber", die sich an die gesamte arabische Welt wandten. In allen arabischen Staaten lauschten die Menschen diesen Sendungen, und Nassers Stimme schien auch mir zuzurufen, ich solle mich gegen die Ungerechtigkeit zur Wehr setzen. Die Revolutionen Nassers in Úgypten und Ben Bellas in Algerien, der siegreiche Widerstandskampf des afghanischen Volkes gegen den Sowjetimperialismus, die islam-ische Revolution im Iran sowie die palästinensische Intifadda - dies sind die grössten islamischen Revolutionen der modernen Zeit, und für kommende islamische Generationen werden sie immer Inspirations- quellen bleiben.

Ungeachtet all der Fehler, die begangen wurden, lag ihnen allen ehrliche Überzeugung zugrunde, und sie haben gezeigt, was die Moslems erreichen können, wenn sie es nur schaffen, sich in einem islamischen Jihad zur Schaffung von Freiheit, Demokratie (Shora) und soziale Gerechtigkeit zu vereinen. Nur wer nichts tut, begeht keine Fehler. Kritisieren ist leicht. Die beste Kritik liegt in der Tat, im Vorangehen mit gutem Beispiel.

Als ich meinen politischen Kampf begann, gab es keine islamische Partei in Marokko. Eigentlich passte mir überhaupt keine der bestehenden Parteien in den Kram. Trotz all ihrer Mängel stand mir die UNFP noch am nächsten. Die Istiqlal war seit der Abspaltung der UNFP eine reaktionäre Partei geworden und kämpfte hauptsächlich noch für die Privilegien der Oberklasse. Zudem wurde diese Partei von Leuten aus Fes (öFassi" genannt) dominiert, denen es geglückt war, viel zu viel Macht und Vorrechte zu erringen und viel zu grossen Einfluss in der Gesellschaft und im Staatsapparat zu erlangen. - Es versteht sich von selbst, dass ich mit diesen "Fassi" eine politisch und wirtschaftliche privilegierte und nicht eine ethnische Gruppe meine.

Zwei Jahre lang wohnte ich also im Internat. Das Leben war für mich kein Honiglecken; ich ging nie ins Kino, sondern widmete mich voll und ganz meiner Ausbildung. Schliesslich galt es die Zeit wettzu- machen, die ich als Kind verloren hatte, weil ich arbeiten musste.

 

Ich habe niemals geraucht, niemals Wein oder Schnaps getrunken oder Haschisch genommen. Ich ass sehr einfach und nahm alles zu mir, was man mir auftischte, gleichgültig wie es schmeckte - um zu überleben. So führte ich ein durch und durch einfaches und unkompliziertes Leben, obgleich Casablanca, wie jede grosse Stadt, ein Hort der Korruption ist.

Während meines letzten Studienjahrs am Lehrerseminar wohne ich bei einem Vetter in Derb Galef, einem ärmlichen Stadtteil in Casablanca, der man fast schon als Elendsviertel bezeichnen kann. Mein Veter, Moh-Olhes, besass ein kleines Geschäft und ich teilte mein winziges Zimmer, das einem Grab ähnelte, mit einem seiner Söhne. Zu meinem Besitz zählte ich ein Fahrrad. Ich war sehr einsam, hatte kaum Freunde und unterhielt wenig Kontakt zu anderen Menschen. Ein allzu geselliger Mensch war ich nie gewesen.

Als ich im Oktober 1963 Lehrer wurde, am gleichen Gymnasium, wo ich zuvor studiert hatte, begann ich meine alten Klassenkameraden zu unterrichten, die nun in der letzten Gymnasialklasse waren. Ich arbeitete drei Jahre lang, nämlich von Oktober 1963 bis Oktober 1966, als Lehrer, und zwar an insgesamt vier verschiedenen Schulen: Lyc‚e Mohamed V, Lyc‚e Fatima Zahra, CollÜge Chaouki und die Lehrerhochschule von Casablanca.

Gleichzeitig gab ich mich politischen Aktivitäten hin und bemühte mich, unter den Gymnasiasten von Casablanca eine islamistisch-nasseristische Untergrundorganisation auf die Beine zu stellen. Im Lyc‚e Mohamed V (früher Lyc‚e Moulay Hasan), wo ich als Lehrer tätig war, nahmen die Studentenunruhen von 1964 und 1965 ihren Anfang. Ich zog dabei die Fäden. Die Unruhen begannen 1964 und erreichten im März 1965 ihren Höhepunkt. Ich wurde am 23. März 1964 und genau ein Jahr darauf nochmals verhaftet.

Wir reagierten gegen die sozialen Ungerechtigkeiten, die Diktatur, das Tyrannenregiment - d.h. Erscheinungen, wie sie für die sogenannte Dritte Welt charakteristisch sind. In Marokko gelang es uns niemals, die Durchschnittsmenschen zur Revolte anzustacheln, auf die es doch in erster Linie ankommt.

 

Die Parallele zu den Oststaaten war ganz auffallend. Die Diktaturen in Ost und West ähneln sich. Dem Durchschnittsbürger wird dort eingetrichtert, dass er keine Rechte besitzt und dass Arbeitslosigkeit, Unrecht, Korruption und eine privilegierte Oberschicht ein naturgegebenes, unveränderliches Schicksal sind. In Tat und Wahrheit galt in Marokko kein Gesetz. Die Korruption war zum System geworden. Unbestechliche Beamte bildeten die Ausnahme.

Die politische Atmosphäre war sehr gespannt geworden, und was die Revolte auslöste, war eine neue Verordnung, der zufolge die Möglich- keiten gewisser Schüler, ihre Studien fortzuführen, eingeschränkt wurden. Der Staat konnte nicht jedermann die Möglichkeit zum Studium bieten, der sie verlangte. Es war ein Leichtes, die Schüler gegen diese neue Verordnung zu mobilisieren, und so kam es zu heftigen Unruhen.

Der Demonstrationszug ging von unserer Schule aus. Schon nach einigen hundert Metern begannen wir gegen den staatlichen öFünfjahresplan" für den Unterricht zu protestieren. Wir marschierten zur regionalen Sektion des Erziehungsdepartements. Da ich Lehrer war und die Schüler mich kannten, konnte ich die Kundgebung organisieren. Viele wünschten, ich solle eine Rede halten und darlegen, worum es ging. Man trug mich auf den Schultern. Ich hielt die verlangte Rede, wobei ich wortstark gegen die Diktatur, den Polizei- staat, die Regierung, die Korruption und den König zu Felde zog.

Während ich sprach, teilte man mir mit, die Polizei sei unterwegs. Ich sagte, wir sollten keine Furcht vor der Polizei haben und nicht wie Feiglinge davonlaufen, sondern uns auf einen Zusammenstoss mit der Polizei vorbereiten. Sobald die Polizisten eingetroffen waren, begannen sie auf die Studenten loszudreschen. Wir wichen nun in Richtung auf die Armenviertel aus. Viele Arbeitslose schlossen sich uns an, und die Demonstration nahm einen ausgeprägteren politischen Charakter an. Dies erfolgte sehr rasch. Man begann das Zentralgefängnis und zahlreiche andere "ffentliche Gebäude zu stürmen. Schon nach ein paar Stunden war Casablanca nicht mehr unter der Kontrolle des Staates.

 

So fing es an. Meine Rolle bei der Revolte bestand darin, die Verbreitung von Flugblättern durch meine Schüler zu organisieren, durch welche andere mobilisiert werden sollten. Wir hatten eine Gruppe gebildet, die die verschiedenen Demonstrationszüge zu ver-schiedenen Zielorten führen sollte. Später wurden allerlei Märchen-geschichten erzählt, und meine Rolle bei der Revolte wurde stark übertrieben; über mich kursierten die wildesten Gerüchte.

Ein Schüler berichtete, er habe gehört, dass ich einen Bus besetzt habe, damit auf das Tor des Zentralgefängnisses losgefahren sei und dieses gesprengt hatte. Nichts daran stimmte. Nach meiner Verhaftung wurde ich allerdings zu diesen Gerüchten befragt, welche für die Polizei Tatsachen waren. Ich konnte beweisen, dass ich nicht in der Nähe des Gefängnisses war, als dies geschah. Mindestens 500 Menschen kamen uns Leben; unzählige wurden verletzt. Die Zahl der Festgenommenen ging in die Tausende.

Diese Geschehnisse bestärkten mich in meiner Auffassung, dass man in einem Diktaturstaat keinen unbewaffneten Widerstand gegen Armee, Gendarmerie und Panzer leisten kann. Schon Nasser hatte sich als Zivilist bemüht, das System zu bekämpfen, doch war er dabei gescheitert. Ich hatte dem Glauben gehuldigt, man könne durch Mobili- sierung der "ffentlichen Meinung sowie durch Kundgebungen etwas erreichen, aber die demokratischen Voraussetzungen dazu fehlten.

Als ich nach dem Examen meine Lehrerlaufbahn begann, dauerte es sechs Monate, ehe meine Kollegen und ich unseren Lohn erhielten. Zusammen mit ein paar anderen Lehrern beschloss ich, dagegen zu demonstrieren. Wir fuhren nach Rabat und setzten uns vor dem Erziehungsministerium auf den Boden. An diesem Sitzstreik nahmen 30 Leute teil. Nach ein paar Minuten rückte eine Polizeieinheit an und umzingelte uns. Ein arroganter Kommissar kam auf uns zu und begann über uns zu lachen: "Meine Heren, glauben Sie denn eigentlich, Sie seien hier in Schweden?"

Dies war das erste Mal, das ich auf den Namen "SuÜde", Schweden, aufmerksam wurde. Mir ging es bei dieser Gelegenheit auf, wie absurd es doch eigentlich war, eine Diktatur mit demokratischen Mitteln bekämpfen zu wollen. 53 Aber, so dachte ich mir, wenn wir die Tanks nicht stoppen können, so müssen wir sie eben fahren. Wir jungen Männer wurden gebraucht, um uns ans Steuer der Tanks zu setzen. Deshalb reifte in mir der Plan, mich um eine Aufnahme an der Militärakademie zu bewerben. Ich wollte Offizier werden.

Als Antwort auf den Sitzstreik wurde ich an meinem Wohnsitz vorübergehend festgenommen. Bei einem früheren Anlass, im März 1964, kam die Polizei in meine Schule und verhaftete mich nach einer Demonstration. Damals hatte ich Glück, denn meine Schüler sahen, dass ich abgeführt wurde, und begannen zu streiken, worauf ich nach der unvermeidlichen routinemässigen Misshandlung freigelassen wurde. Die Tochter des Polizeikommissars hiess Husseini und war eine meiner Schülerinnen.

Aber im März 1965 stattete die Polizei mir an meinem Wohnsitz einen Besuch ab, und die Schüler wussten nicht, was passiert war. Dass ich Lehrer war, erwies sich als hilfreich, denn man hätte es ja sofort gemerkt, wenn ich längere Zeit abwesend gewesen wäre. In Marokko sind Schüler und Studenten allgemein weit stärker politisiert als der Rest der Gesellschaft. Wäre ich ein gewöhnlicher Arbeiter gewesen, so wäre ich vielleicht für immer verschwunden, wie es Hunderten von Menschen in Marokko widerfahren ist. Das schlimmste Vergehen, dessen man sich in jenem Lande schuldig machen kann, besteht darin, ösich in die Politik einzumischen".

Wird man aufgrund dieses Delikts festgenommen, so werden beim Verhör die üblichen Fragen gestellt. Dabei wird der Befragte stets misshandelt, selbst wenn es nur um ganz einfache Fragen geht, etwa um die, welcher Organisation man angehört oder was man getan hat. Mir wurde vorgeworfen, dass ich die Schüler zum Streik aufgewiegelt und Demonstrationen angezettelt hätte. Ferner hätte ich gegen den König gehetzt und die Monarchie geschmäht; ich hätte zuviel von der französischen Revolution geredet und dabei Ludwig XVI auf beleidigende Weise erwähnt; ferner hätte ich behauptet, dass der Islam die Monarchie ablehnt und die Könige als die Verderber der Gesellschaft bezeichnet.

 

Ich erinnere mich noch lebhaft an die Umstände, unter denen mein Verhör stattfand. Die Verhältnisse in der Zelle waren barbarisch. Auf höchstens vier Quadratmetern waren zehn Menschen zusammen- gepfercht. Alle halbe Stunde wurde Wasser in eine der Ecken gespült. Alle Viertelstunde "ffnete der Wärter die Lucke in der Metalltüre und leuchtete mit der Lampe in die Zelle. Wir kamen uns vor wie Ratten. Es gab kein elektrisches Licht, und das einzige Geräusch kam von dem ab und zu durch das Toilettenloch im Fussboden rinnenden Wasser.

Nach einer Woche wurde ich auf freien Fuss gesetzt, da man weiteren Schülerprotesten vorbeugen wollte. Die Krawalle waren schliesslich von den Schulen ausgegangen, und die Behörden wollten zusätzliche Unruhen und Streiks vermeiden.

Immer, wenn ich nach einer Verhaftung die Polizeistation verliess, fühlte ich mich als unbewaffneter Zivilist noch machtloser und hilfloser als je zuvor. Wie leicht hätten die Polizisten mich doch töten können, als ich in der Zelle sass! So war es mit Hunderten von anderen Gefangenen geschehen.

Nun war die Zeit gekommen, wo ich den Beschluss fasste, Offizier zu werden. Der einzige normale Weg zur Offizierskarriere verläuft durch die königliche Militärakademi in Meknes. Dort meldete ich mich im Herbst 1965 an.

Einige Tage darauf wurde Ben Barka in Paris auf offener Strasse entführt. Ben Barka war ein typischer, gebildeter französischer Sozialist im marokkanischen Gewande. Er war gewissermassen eine Mischung von Franýois Mitterrand (ein Linksmacchiavellist) und Edgar Faure (ein Rechtsmacchiavellist).

Als Opportunist hatte er tatkräftig dazu beigetragen, Hassan dem Zweiten an die Macht zu helfen, und nun war er zum Opfer des Despoten geworden. "Nein", dachte ich mir, "Ben Barkas Weg führt nur zum marokkanischen Palast und nach Paris. Ich muss mich dem Heer anschliessen, damit sich mir die Chance bietet, die Probleme Marokkos auf radikale Weise zu lösen."

 

Auf der Militärakademie klärte man mich darüber auf, dass ich die Erlaubnis des Erziehungsministers benötigen würde, um eine militärische Karriere einschlagen zu dürfen. Schliesslich war ich Lehrer. Mein Antrag wurde abgelehnt. Ich fand mich widerwillig mit der abschlägigen Antwort ab und unterrichtete weiter in Casablanca.

Am Ende des Schuljahres 1965/1966 bewarb ich mich abermals um die Aufnahme an die Militärakademie. Ich suchte das Verteidigungs- ministerium auf und traf mich mit Minister Ahrdan, einem Französling, der während der Kolonialzeit Offizier in der französischen Armee gewesen war. Nach der Selbständigkeit wurde er zu einer Art Politclown und ideologischem Scharlatan. Ahrdan verwies mich an den Kabinettssekretär und Generalsekretär im Verteidigungsministerium, der direkten Kontakt mit dem König hatte.

Dieser hiess Ben Haroche, bekleidete den Rang eines Majors und war zionistischer Jude. Er war nächst dem König der eigentliche Machthaber im Verteidigungsministerium. Major Ben Haroche empfing mich, um mir mitzuteilen, dass ich nicht die geringste Chance hatte, zur Militärakademie zugelassen zu werden, doch stehe es mir frei, mich mit dem Leiter der Akademie in Verbindung zu setzen.

Ich folgte diesem Rat, doch erfolglos. Da begab ich mich direkt zum Königspalast, wo ich eine Audienz beim Chef des königlichen Militärstabs verlangte. Dies war General Madbouh. In Marokko liegt der Weg zum Erfolg in persönlichen Kontakten und in der Korruption. Es glückte mir, Madbouh von meiner Berufung für die militärische Laufbahn zu überzeugen.

Binnen zwei Jahren war ich ein perfekter Offiziersaspirant, was unter anderem dazu führte, dass ich zum Chefredaktor der Akademie- zeitschrift "Le Flambeau" (öDie Fackelö) ernannte wurde. 1968 wurde ich Offizier. Der einzige Verweis, der mir während der Zeit in Maknes erteilt wurde, ging darauf zurück, dass ich mich zusammen mit einigen Kameraden weigerte, an einem Nachtmarsch teilzunehmen. Diese Befehlsverweigerung, die dazu führte, dass wir 27 Aspiranten nach Ahermoumou strafversetzt wurden, war von den "Freien Offizieren" geplant worden.

 

Während meiner Zeit in der Militärakademi war ich nämlich mit anderen Gegnern der korrupten marokkanischen Monarchie in Kontakt gekommen. Offenbar war ein Staatsstreich die einzige Möglichkeit, eine Veränderung zustande zu bringen, und in der Armee hatte man zu diesem Zweck eine geheime Organisation gebildet, die sich "die Freien Offiziere" (öles Officiers Libresö) nannte. Zu dieser Organisation hatte ich mich angeschlossen.

In Ahermoumou befand sich, wie bereits erwähnt, die Unteroffiziers- ausbildungsschule. Sie lag auf einem Bergplateau, achtzig Kilometer von der Stadt entfernt. Oberstleutnant Ababou war damals Schulkommandant. Wieder führte mich mein Geschick dort mit einem Mann zusammen, der sich im Kampf gegen die Monarchie auszeichnen sollte. Während Ababou in der Rif-Gegend in Nordmarokko geboren waren, stammte ich aus Tafraoute im Süden.

Bei einem Staatstreich galt es, die Kontrolle über die Hauptstadt Rabat, den Armeestab, das Innenministerium und die Radio- sowie Fernsehstationen zu übernehmen. Die ganze Operation war natürlich sehr riskant, aber bei guter Planung gar nicht aussichtslos. An den zwei Putschen, die tatsächlich versucht wurden, war ich selbst beteiligt, im ersten Fall mehr indirekt.

Der erste Putsch fand am 10. Juli 1971 statt. Aus Sicherheitsgründen und um jene zu schützen, die immer noch der marokkanischen Armee angehören, darf ich nicht alle Einzelheiten der Pläne sowie meiner Rolle preisgeben, aber manches kann jetzt enthüllt werden.

 


(INDEX)

 

Die erste Revolte

An jenem Tage - es war ein Feiertag - befand ich mich in meinem Offizierszimmer in der Moulay-Ismail-Verlegung in Rabat. Ich war in ein Buch vertieft, das den Titel "La technique d'un coup d'Etat" (öDie Technik eines Staatsstreichsö) trug; an den Namen des Verfassers kann ich mich nicht mehr erinnern. Der Tagesoffizier, Hauptmann Mazouz, kam hereingestürzt und teilte mir mit, dass die Alarmbereitschaft ausgerufen worden war.

Ich warf mich eilends in meine Kampfuniform, rief meine Männer zusammen und befahl, sie sollten in ihre Panzer springen. Es war ungefähr drei Uhr nachmittags. Der Soldat, der die Schlüssel hatte, war zufällig gerade abwesend. Ich liess die Tür zum Munitionsspeicher aufbrechen, um die 17 Panzer, aus denen meine Einheit bestand, mit scharfer Munition bestücken zu lassen.

In diesem Augenblick sah ich Oberstleutnant Saad, den Stabschef der Panzerbrigade, wie er in einem schwarzen Auto durch das grosse Kasernentor gefahren kam. Ihm folgte Oberst Abaroudi, Befehlshaber der königlichen Marine. Beide trugen Zivil. Aufgewühlt und in Panik rief mir Saad zu: "Wir kommen vom Palast in Shkirat. Der königliche Palast ist von bewaffneten Zivilpersonen angegriffen worden. Viele sind dabei umgekommen. Los zum Palast. Folgt der Hauptstrasse und schiesst alle Bewaffneten nieder, die sich euch in den Weg stellen.ö

Mir war bekannt, dass die "Freien Offiziere" Oberstleutnant Mohamed Ababou den Auftrag erteilt hatte, zusammen mit General Madbouh den Sturz des Königs in die Wege zu leiten. Aber nur die direkt an der Operation Beteiligten durften den Zeitpunkt, den Ort und die genauen Umstände des Putsches erfahren. Deswegen wusste ich nicht genau, was sich ereignet hatte.

Ich verliess die Moulay-Ismail-Verlegung an der Spitze meiner Kolonne im offenen Panzerturm stehend. Der Gedanke, dass die Zwingburg des Tyrannen angegriffen worden war, stimmte mich glücklich, auch wenn mir noch nicht klar war, wer denn nun genau hinter dem Coup stand.

 

Gleichzeitig schämte ich mich darüber, dass ich meine Hände in den Schoss gelegt hatte, während das Schicksal meines Vaterlandes entschieden wurde. Hätte ich mich doch am Sturm auf den Palast beteiligen können! Am Sturz des Tyrannenregiments teilzuhaben wäre eine Ehre für jeden Freiheitskämpfer gewesen.

Fest entschlossen, alle Befehle zu missachten und mich stattdessen mit meinen eigenen Panzern an die Seite der Rebellen zu stellen, entschied ich mich, die Küstenstrasse zum Palast einzuschlagen, die wohl etwas kürzer war. Durch diesen unglücklichen und schicksalhaften Beschluss habe ich möglicherweise den König gerettet.

Später erfuhr ich, dass die Lastwagen mit den rebellierenden Soldaten auf der Hauptstrasse nach Rabat zurückkehrten, während meine Panzerkolonne die Küstenstrasse Rabat-Skhirat eingeschlagen hatte. Hätte ich denselben Weg gewählt wie sie, so hätten sich meine 17 Panzer mit ihnen vereint, und dank dieser Verstärkung wäre der Skhirat-Putsch wahrscheinlich geglückt. Die Geschichte Marokkos hätte dann einen anderen Verlauf genommen!

Skhirat ist der Name des königlichen Sommerpalastes. Er liegt an der Atlantikküste ein paar Meilen südlich von Rabat auf der Strasse nach Casablanca. An jenem Sommernachmittag war die Umgebung der Küstenstrasse voll von Badenden und Ausflüglern. Scharen von Schaulustigen stoben vor meinen Panzern zur Seite. Wussten sie wohl schon, dass sich im Königspalast eine Tragödie abspielte?

Auf dem Weg zum Palst erfuhr ich, dass die rebellierenden Soldaten Kadetten aus meiner alten Militärschule in Ahermoumou waren, wo man Unteroffiziere ausbildet. Ich war dort Kompaniechef, Lehrer und Führer meiner alten Klassenkameraden aus der Mililtärakademie gewesen. Diese wurde von einem meiner alten Vorsitzenden, Oberstleutnant Ababou, geleitet. Mich überkam schiere Verzweiflung. Beim Sturm auf den Palast wäre mein Platz an ihrer Seite gewesen. Stattdessen sollte ich nur noch zum Zeugen der letzten Phase einer Katastrophe werden.

 

Mich ereilte die Kunde, dass einer der Putschführer, General Madbouh, tot war. Er war es gewesen, der mir einst den Zugang zur militärischen Laufbahn verschafft hatte. Das Schicksal hatte mich mit zwei Männern zusammengeführt, Ababouh und Madbouh, der insgeheim den gleichen Wunschtraum wie ich hatte, nämlich die Monarchie zu stürzen, die für mich all das verkörperte, was in Marokko böse war.

Wie fand General Madbouh den Tod? Und weshalb beging Oberst Ababou den Irrtum, sich so hastig nach Rabat zu begeben und so den König fast unbewacht im Palast zurückzulassen? Dies waren zwei Fragen, die bald nach dem gescheiterten Putschversuch gestellt wurden. Vielleicht werden sie niemals beantwortet werden. Ich war, wie bereits gesagt, nicht dabei, als Madbouh starb. Mit Hilfe von Zeugenaussagen kann man aber ein einigermassen glaubwürdiges Bild von dem zeichnen, was drinnen im Palast geschah.

Die Angehörigen des diplomatischen Korps hatten Einladungen zur Geburtstagsfeier des Monarchen erhalten. Solche waren auch an einflussreiche ausländische Geschäftsleute ergangen, die sich gerade in Marokko aufhielten, sowie natürlich an die königliche Regierung und die verschiedenen Minister. Das Fest legte Zeugnis von dem unglaublichen Luxus ab, in dem der König und seine Umgebung schwelgt.

Während die Gäste in kleinen Gruppen dastanden und munter miteinander konversierten, wobei sie kleine Teller mit geräuchertem Lachs weiterreichten, ertönten jenseits der Palastmauern Schüsse. Soldeten stürmten in den Palast, wobei sie wild um sich feuerten. Der belgische Botschafter sank tödlich getroffen zu Boden, während seine Kollegen sich in Deckung brachten. Palastwachen, Gäste, der König, alle Anwesenden waren wie vom Blitz gerührt.

Später wurde noch eine kaum zu beantwortende Frage aufgeworfen: Wie konnte es Oberst Ababou gelingen, eine Streitkraft von nicht weniger als 1400 Mann von Ahermoumou via Fes, Meknes, Kenitra und Rabat nach Skhirat zu verschieben, ohne dass der König auch nur das Allergeringste davon erfuhr?

 

Welcher höhere Offizier, oder welche höheren Offiziere, hatten es unterlassen, dem höchsten militärischen Befehlshaber des Landes, dem König, diese umfassenden Truppenmanöver zu melden, die sich während einer ganzen Nacht quer durchs Land vollzogen? Der Armeestab wusste lediglich, dass Ababous Unteroffiziersschule in Ben Slimane, einige Meilen südlich von Skhirat, ein Sommermanöver abhalten würden.

Ababou unterteilte seine Kadetten vor dem Angriff auf den Palast in zwei Gruppen. Die erste marschierte an der Südseite des Gebäudes auf, rechts vom Golfplatz, der den Palast von der Strasse trennt, die zweite rückte nördlich des Palastes von links vor. Die königliche Wache eröffnete das Feuer. Um sie in Panik zu versetzen, erhielten Ababous Männer in der Nordgruppe den Befehl, in die Luft zu schiessen. Die südliche Gruppe meinte, die Wache habe auf sie gefeuert, und begann ihrerseits zu schiessen. Während die Kadetten in den Palast stürmten, schossen sie in ihrer Verwirrung und Panik aufeinander, da Wachen und Kadetten dieselben Uniformen tragen. Es gab die ersten Toten. Die Gäste stoben auseinander. Einige von ihnen trugen Schusswaffen und machten von diesen Gebrauch. Die Kadetten blieben ihnen nichts schuldig und feuerten auf die Gäste.

Ababou war ein kleinwüchsiger, muskulöser, dunkelhäutiger, harter Mann, der als völlig unbeugsam galt. Für ihn galt es, dem König den Garaus zu machen, seine Familie ins Exil zu schicken und ein paar Minister an die Wand zu stellen. Kurz gesagt, er wollte eine blutige Revolution, bei der mit dem Gegner nicht viel Federlesens gemacht wurde. Der andere Putschführer, General Madbouh, hegte ganz andere Pläne. Er wollte den Palast umstellen, die Wachen entwaffnen, den König gefangennehmen und von ihm verlangen, er solle zugunsten einer Junta von jungen Offizieren abtreten.

Eigentlich hätte es möglich sein müssen, einen unblutigen Putsch durchzuführen. Doch ein katastrophales Missverständnis zwischen Ababou und Madbouh beim Sturm auf den Palast führte zu Wirrwarr und Schiessereien, wodurch die Revolte eine blutige Wendung nahm. So war es nicht verwunderlich, dass der Putsch schliesslich zum Fiasko wurde.

 

General Madbouh sieht, dass Wachen und Gäste vom Maschinen- gewehrfeuer niedergemäht werden, und er begreift, dass die Operation schief verläuft. Um einen Trumpf in der Hand zu haben, vielleicht auch aufgrund seines Widerwillens, zu töten, will er unbedingt, dass der König überlebt. Er sucht in der von Panik erfüllten Menge nach ihm, findet ihn und drängt ihn, sich zusammen mit etwa zehn Gästen auf einer Toilette hinter dem Thronsaal zu verstecken.

Draussen vor dem Palast peitschen die Schüsse. Madbouh führt ein kurzes Gespräch mit dem Monarchen. Er fordert ihn zur Abdankung auf. "Sie können via Rabat oder Casablanca nach Frankreich fliegen", sagt er. Der König willigt ein. Hassan II unterzeichnet eine Abdank- ungsurkunde, die man angeblich später beim toten Mahboud finden wird. Die offizielle Stellungnahme seitens des Palastes erwähnt dieses Dokument verständlicherweise nicht und geht auch mit keinem Wort darauf ein, dass der König zur Abdankung aufgefordert worden ist.

Es wird berichtet, dass der König mit seiner Einwilligung eine Bedingung verknüpft hat: der Schutz seiner Familie muss gewährleistet sein. Madbouh nahm diese Bedingung an und schickte Dr. Ben Aich, den königlichen Arzt, in die Königsgemächer, wo er sich um die vier Kinder des Monarchen kümmern sollte. Oufkir, der zusammen mit dem König auf der Toilette gewesen war, berichtete mir später, Hassan habe sich ohne Diskussion bereiterklärt, den Thron zu räumen. Er war von lähmender Angst gepackt und dachte nur noch daran, sein Leben sowie das seiner Angehörigen zu retten.

In diesem Augenblick tauchte Oberst Abadou auf, der den König suchte. Madbouh teilte ihm gelassen mit, dass jener zur Abdankung bereit sei und dass er, Madbouh, ihn bereits nach Rabat habe eskortieren lassen. Ababou geriet in rasende Wut. Er wandte sich an seinen Leibwächter, Akka, einen Riesen mit kahlgeschorenem Haupt und Armen wie ein Gorilla, und sagte: "Madbouh ist ein Verräter; töte ihn!" Akka feuerte, und Madbouh fiel zu Boden. Doktor Ben Aich, der inzwischen zurückgekehrt war, wurde ebenfalls getroffen und sank zusammen.

 

Nun wusste niemand im Palast mehr, wo sich der König befand. Ababou, der fest davon überzeugt war, der Monarch habe entschlüpfen können, sammelte wutschäumend seine übriggebliebenen Soldaten und fuhr eilends nach Rabat, um den Flüchtigen abzufangen, den Radiosender zu besetzen und den Plan zu vollenden. Dabei liess er eine kleine Schar von 20 Kadetten in Skhirat zurück. Er erteilte ihnen Anweisungen: Bis 19 Uhr sollten die Gäste zur Militärverlegung des Palastes eskortiert werden. Dort solle man die Ausländer unter ihnen aussortieren. Bis zu jenem Zeitpunkt werde entweder alles gewonnen oder alles verloren sein.

Im Palast geschah nun fast nichts mehr. Alle standen noch unter Schock. Schliesslich entdeckte ein Soldat, der auf die Toilette musste, ganz zufällig den König, ohne ihn zu erkennen. Er packte den in eine beige-rosarotes Hemd gekleideten Mann und führte ihn zu ein paar anderen Gefangenen an eine Mauer, wo er sich fügsam hinsetzte. Nach einer Weile ging dem Soldaten ein Licht auf, und er merkte, wen er da gefangengenommen hatte. Die Soldaten waren nicht über den Zweck der Operation unterrichtet. Sie gehorchten bloss ihren Befehlen.

Der König begriff, dass ihm keine Erschiessung drohte, wenigstens nicht seitens des Kadetten, der vor ihm stand. Die Lage wandte sich allmählich zugunsten des Königs. Keiner kennt die genauen Umstände. Laut Oufkir befreiten einige auf der anderen Toilette vergessenen Wachen den Monarchen und töteten die 20 Kadetten. Die offizielle Version dürfte propagandistisch verfälscht sein und lässt sich nicht beweisen. Oberst Dlimi, der sich gleichfalls mit Hassan auf dem Abort aufhielt, bestätigte mir, der Rest der königlichen Wache sei ganz überraschend aufgetaucht und habe die Kadetten zusammen- geschosssen. Während einiger Stunden spielte sich die Geschichte Marokkos auf den Toiletten des Palastes von Skhirat ab.

Ich erreichte Skhirat über eine kleine Brücke, wo fünf Gendarmen unbefugte Fahrzeuge zurückwiesen. Als wir uns dem Palast näherten, fuhren wir mit unseren 17 Panzern direkt über den Golfplatz zum Gebäude vor. Auf dem Golfplatz lagen zahlreiche Tote und Verletzte. Krankenwagen fuhren im Pendelverkehr hin und her. Das Chaos war beinah total.

 

Zum Zeitpunkt meiner Ankunft hatte der König den Palast bereits wieder unter Kontrolle. Er sah aber verwirrt und ängstlich aus. Ich liess meine Panzerkolonne anhalten, sprang ab und eilte auf die Hauptpforte zu, wo eine Gruppe aufgewühlter Personen stand. Unter ihnen befand sich der König in Gesellschaft von Innenminister Oufkir, Armeechef Bachir Bukali und einem anderen Minister, General Driss Ben Omar.

Ganz offenkundig war das Eintreffen der 17 Panzer unerwartet gekommen. "Woher kommen Sie, Leutnant?" fragte der König höflich und nervös. "Von der Moulay-Ismail-Verlegung. Wo ist General Gharbaoui?" fragte ich meinerseits, da ich unbedingt wissen wollte, was mit meinem obersten Chef geschehen war, dem Kommandanten der Panzerstreitkräfte und engsten Mitarbeiter Hassans. "Er ist verwundet", entgegnete Oufkir. "Was ist in Rabat los?" Ich sagte, darüber wisse ich nichts, und erkundigte nach dem im Palast Vorgefallenen.

Der König war ganz durcheinander und blickte die ganze Zeit auf Oufkir und Bachir. Oufkir fragte, ob er zusammen mit mir nach Rabat fahren dürfe, und General Bachir bat um einen Panzer, um zum Armeestab in Rabat zu fahren. Ich willigte natürlich ein und bat Oufkir, in meinen eigenen Panzer zu steigen, so dass wir zusammen nach Rabat losfahren konnten. Im Panzerturm sass ich nun neben der vermeintlichen grauen Eminenz des Despoten, dem Mann, den ich nächst Hassan selbst am meisten von allen Menschen verabscheute. Als wir in der Moulay-Ismail-Verlegung eingetroffen waren, lobte mich Oufkir ob meiner Besonnenheit und bat mich, ihn einmal anzurufen; er wolle mich gerne wieder treffen.

Die Rache an Ababous rebellischen Soldaten war unglaublich grausam. Verwundete Kadetten wurden lebend in ein Massengrab geworfen. Hassan liess Folterwerkzeuge herbeischaffen und beteiligte sich persönlich am Verhör und an der Folterung der in der Moulay-Ismail- Kaserne Inhaftierten. Unter den Verhafteten befanden sich 13 der insgesamt 16 Armeegeneräle.

 

Der König schlug Oberst Chelouati mehrfach ins Gesicht, während dieser mit verbundenen Augen an einen Stuhl gefesselt war. "Welcher Feigling schlägt da einen Gefesselten?" fragte Chelouati. "Nehmt ihm die Augenbinde ab", befahl der Tyrann. Als Chelouati ihn sah, spuckte er ihm ins Gesicht. "Morgen werde ich auf deine Leiche spucken", versprach der König.

Am 13. Juli 1971 wurde der Schiessplatz in Temara (6 km südlich von Rabat) Schauplatz einer Massenhinrichtung. An Pfähle gebunden, wurden 13 Offiziere mit je 13 Schüssen von 13 Soldaten füsiliert. Der König wohnte der Exekution in Begleitung des jordanischen Herrschers Hussein bei, der ihm einen Blitzbesuch abgestattet hatte. Premierminister Laraki spuckte als erster auf die Leichen. Um dem König seine Tüchtigkeit zu beweisen, schnitt Kommandant Salmi einem der Erschossenen mit seinem Messer eine Hand ab und griff sich die Handschellen als Trophäe. Ein Bulldozer zerquetschte die Leichen und schaufelte sie in ein Massengrab.

In Marokko herrschte blanker Terror. Es gab nur wenige Offiziere oder Unteroffiziere, die nicht einen oder mehrere Verwandte unter den Opfern hatten. In der Verlegung wagten wir kaum miteinander zu reden. Jeder misstraute jedem.

 


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General Oufkir

Eine Woche nach dem blutig niedergeschlagenen Putschversuch erhielt ich von meiner Brigadeleitung die Kunde, dass General Oufkir in seiner Wohnung in Souissi auf mich wartete. Ich nahm die Nachricht mit höchst gemischten Gefühlen auf. Durch Oberst Mimoun Oubeja, den Vizechef der Panzerbrigade, erfuhr ich jedoch, dass sich Oufkir im Hauptquartier des Armeestabes aufhielt. Ich fuhr mit meinem Auto direkt dorthin. Dabei trug ich meine Kampfuniform, wie an jenem Tage, als ich mit Oufkir in meinem Panzer sass. Oufkir war soeben zum Armeechef und Verteidigungsminister ernannt worden.

Als ich an meinem Bestimmungsort eintraf, erblickte ich rund zehn Offiziere - Majore, Obersten, Generale -, welche im Wartesaal sassen und der Ankunft Oufkirs harrten. Ich ging aufs Sekretariat des Generals, um mich anzumelden. Major Aroub, sein Sekretär, empfing mich. Er konnte seine Verblüffung darüber nicht verhehlen, dass ein kleiner Leutnant ohne offizielle schriftliche Einladung in Kampfuniform kam, um den Verteidigungsminister und Armeechef persönlich zu treffen. Ich teilte ihm mit, der Minister habe mich rufen lassen. Aroub eröffnete mich, Oufkir habe mich am Vormittag bei einer grossen Versammlung mit Offizieren aus allen Teilen des Landes lobend erwähnt. Danach ging Aroub in Oufkirs Büro. Dieser kam sogleich heraus, umarmte mich und forderte mich auf, ihm zu folgen. Er gab Aroub zu verstehen, dass er keine Zeit hatte, die Offiziere zu empfangen, die im Wartesaal sassen.

Zusammen fuhren wir in Oufkirs Dienstwagen, einem grossen schwarzen französischen DS. Der Fahrer war ein Feldwebel. Während der Fahrt sagte mir der Armeechef auf französisch: "In letzter Zeit habe ich viel über dich gehört. Du warst ein tüchtiger Lehrer, ein ausgezeichneter Kadett und ein mutiger Offizier." Dann fügte er mit einem breiten Lächeln hinzu: "Die Franzosen haben mir kein Arabisch beigebracht. Willst du mich vielleicht arabisieren, so wie du es mit General Gharbaoui versucht hast?" Mir kam es seltsam vor, dass sich zwei Marokkaner auf französisch unterhielten. Oufkir hatte nämlich das französische Schulsystem durchlaufen und sprach miserabel arabisch.

 

Ich antwortete, ebenfalls lächelnd: "Es ist nicht leicht, sich vom französischen Kolonialismus zu befreien, der uns immer noch beherrscht: sprachlich, kulturell und politisch.ö

Im Zivil und mit seiner dunklen Brille, die er stets trug, bat mich Oufkir herzlich in seine Villa. Er pries die "Ruhe und Geistesgegenwart", die ich seiner Auffassung nach am 10. Juli an den Tag gelegt hatte, und fragte mich über meine Kindheit und meine militärische Karriere aus. Er stellte mir seine Kinder und sein Löwenbaby vor, das - welch ein Zufall - Skhirat hiess. Seine Frau war nicht zu Hause. Er stellte mir auch allerlei Fragen über die Stimmung in der Armee und unter meinen Offizierskameraden. Dies stimmte mich ein wenig misstrauisch. Um Bedenkzeit zu gewinnen, schlug ich vor, binnen drei Tagen einen ausführlichen Rapport über diese Frage anzufertigen. Ich fügte hinzu: öWas ich jetzt schon sagen kann, ist folgendes: Die Armee ist durch und durch korrupt.ö

Oufkir liess seinen nicht unbeträchtlichen Charme spielen, um mich jungen Offizier zu betören. Ich war höchst neugierig, was er wirklich dachte, und fragte ohne Umschweife: "Was halten Sie denn von der institutionalisierten Korruption, die überall im Lande herrscht?" öMarokko befindet sich in einer tiefen Krise", antwortete er. "Falls der König keine durchgreifenden sozialen Reformen anordnet, fürchte ich, dass von der Armee noch weitere Putschversuche ausgehen werden", fügte er verschmitzt hinzu.

Obgleich der Ruf meines Gastgebers nicht der beste war, schwand mein Misstrauen allmählich. "Viele Generäle und Minister sind vollkommen korrupt", meinte er. Als besonders übles Beispiel nannte er einen Oberst, von dem bekannt war, dass er eine Unsumme staatliche Gelder veruntreut hatte. "Der Mann ist ein Schurke, den man um einen Kopf kürzer machen sollte. Doch ist er nur einer von den vielen tausend Blutsaugern, die unser Land ausplündern", hob Oufkir hervor. Ich verabschiedete mich vom General und verliess seine Luxusvilla, fester entschlossen denn je zuvor, nötigenfalls einen Pakt mit ihm einzugehen, um den Despoten mit den blutbefleckten Händen zu stürzen.

 

Die Revolte in Skhirat hatte Oufkir verändert, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mein eigenes Bild von Oufkir begann sich grundlegend zu ändern. Als ich, noch jung an Jahren, ein politisches Bewusstsein entwickelte, stand Oufkir schon im Rampenlicht. Er war Polizeichef, und die Polizei verkörperte die Unterdrückung.

Doch weil sämtliche hohen "Staatsmänner" in Marokko sich selbst mit Vorliebe als Sklaven oder Werkzeuge des Königs darstellen, um Karriere zu machen, betrachtete ich ihn lediglich als Sklaven oder als Werkzeug in den Händen des Monarchen, obgleich ich mir das Ganze nicht so genau überlegt hatte. Der marokkanische König war ja, wie weiland Ludwig XIV in Frankreich, der Staat selbst, und alle anderen waren seine Knechte. Hassan geniesst es, wenn seine Minister den traditionsreichen Spruch von sich geben: "Majestät, ich bin Ihro Sklave."

In Marokko gibt es gar keine Minister, welche diesen Namen verdienen, sondern nur Sklaven. Ich hasse den grotesken Personenkult um den König, und die Vorstellung, man solle einem Menschen blind gehorchen, ist mir zuwider. Man soll einem Ideal und seinem Land treu sein. Doch tyrannische Monarchien und Diktaturen können keine freien Menschen gebrauchen. Folgerichtigerweise bildet die Sklaverei (in verschiedener Form) einen Teil der marokkanischen Monarchie.

Sogar die aus Schwarzen bestehende königliche Garde setzt sich aus Sklaven im recht eigentlichen Sinne des Wortes zusammen, welche Hassans Eltern zu Spottpreisen in Schwarzafrika gekauft haben. Hassan kann sich niemals richtig auf die Marokkaner verlassen. Doch das Schlimmste an den Sklaven des Königs ist, dass sie dem Volk gegenüber ebeso grausam und arrogant sind, wie sie sich dem Monarchen gegenüber unterwürfig verhalten! Für Hassan sind Polizisten und Soldaten nichts anderes als seine privaten Kettenhunde.

Die marokkanische Polizei übt ein wahres Schreckensregiment aus. Da Oufkir an der Spitze der Polizei stand, machte das Volk ihn natürlich für alles verantwortlich.

 

Hauptverantwortlicher war aber natürlich der König. Am nächsten von allen stand diesem ein Mann, der lange Zeit Innenminister gewesen war und Gdira (arabisch für "kleiner Topfö) hiess. Hassan ist selbstverständlich die "grosse Topf" (ögedraö), sagte man, als Gdira Innenminister war.

Nun ja, ich glaube, meine Ansichten über Oufkir wurden von den allermeisten Offizieren geteilt. Man muss sich aber in Erinnerung rufen, dass Oufkir eigentlich nie in der marokkanischen Armee Dienst geleistet hatte. Nach der Unabhängigkeit kam er direkt von der französischen Armee als privater Adjutant des Königs in den Palast. Dann wurde er Polizeichef, und anschliessend Innenminister.

Erst nach der Skhirat-Revolte und seiner Ernennung zum Armeechef (also seiner Rückkehr zum Militär) änderte sich unser Bild von ihm. Wir begannen zu ahnen, dass er dem König nicht sonderlich wohlgesinnt war. Wir stellten auch fest, dass er keineswegs so allmächtig war, wie wir uns vorgestellt hatten.

Ich begriff, dass sich in der Armee wichtige Dinge abspielten, über die Oufkir keineswegs auf dem laufenden war. So erfuhr er beispielsweise erst aus dem Rundfunk, dass er unmittelbar nach dem Skhirat-Putsch zum Verteidigungsminister ernannt worden war. Zu jenem Zeitpunkt hielt er sich in der Kaserne Moulay-Ismail auf, wohin ich mit ihm von Skhirat aus gefahren war. Gleichzeitig hatte Hassan beispielsweise einen neuen Chef der Panzerstreitkräfte (Oberst Hatimi) und einen neuen Luftwaffenchef (Oberst Lyoussi) ernannt, ohne Oufkir vorher darüber ins Bild zu setzen. Alle erhielten ihre Berufungsurkunden und Befehle direkt vom König. Damals begriff ich, wie der Gewaltherrscher auch die Polizei organisierte. Mir wurde auch klar, dass er Oufkir nur als Fassade brauchte. Das einfache Volk weiss nichts von alledem.

Es bedarf wohl keiner Erklärung, dass ich zu Oufkir anfangs höchst skeptisch eingestellt war. Er muss ja wahrhaftig naiv sein, dachte ich mir, wenn er sich einbildet, mich für seine Absichten einspannen zu können. Doch bei unser ersten Begegnung trat er sehr bescheiden und sympathisch auf. Er war ganz und gar nicht der Gewaltmensch, als den ich mir ihn vorgestellt hatte. 69 Sein privates Auftreten stand in diametralem Gegensatz zu seiner Funktion. Von ihm ging eine starke Ausstrahlung aus. Ich glaube, sein Gerechtigkeitssinn war sehr ausgeprägt. Er empfand einen instinktiven Hass auf die marokkanischen Politiker und die Oberschicht, die nur auf ihre Privilegien erpicht und darauf aus waren, die Brosamen von Hassans Tisch aufzuschnappen. Er erlebte aus nächster Nähe mit, wie heuchlerisch ihre Moral war und wie sie dem König die Stiefel leckten, um seine Gunst zu erlangen. Sein schlechter Ruf blieb ihm natürlich nicht verborgen. "Das Volk glaubt", räumte er einmal freimütig ein, "dass ich die Kuh festhalte, während die Diebe sie melken".

Aber Oufkir war ein Karrieremilitarist; seine politischen Ideen waren holzschnittartig und instinktmässig. Eine bewusste politische Philosophie ging ihm gänzlich ab. Als er in die Armee zurückkehrte, fühlte er sich zu den radikalen Offizieren hingezogen. Schliesslich war er ein Soldat der alten französischen Schule, mit all dem, was dies an Gutem und Schlechtem bedeutet. Immerhin gab es ja in Frankreich eine Revolution, und seither dürfte es einem französischen Offizier auf die Dauer reichlich schwerfallen, sich wie ein Sklave behandeln zu lassen.

Vier Tage nach meinem ersten Besuch kam ich abermals in seine Villa in Souissi. Ich brachte ihm einen dreissigseitigen Rapport voller Zahlen und Tatsachen. Der Bericht war in höchstem Masse explosiv. Ich enthüllte die Korruption unter den Offizieren und zeigte auf, wie sie durch Vetternwirtschaft und Bestechung Karriere gemacht hatten. Oufkir las den Bericht aufmerksam und schloss ihn dann in einem Safe ein, der in der Wand des Wohnzimmers eingelassen war.

Leicht nervös fragte er mich, ob sonst noch jemand diesen Rapport gelesen habe, was ich verneinte. "Die Sache bleibt unter uns", schärfte er mir ein. Er schwieg eine Zeitlang und fuhr dann fort: "Vor sechs Monaten habe ich zuhanden des Königs einen ähnlichen Bericht über die Korruption im Innenministerium abgefasst. Seine Antwort lautete: Es ist nicht deine Sache, am System herumzumeckern."

 

Oufkir nahm mich in seinen Garten (denn er fürchtete sich vor verborgenen Mikrophonen) und sagte: "Auf dem Papier war ich der Innenminister, aber in Tat und Wahrheit war es niemand anderes als der König, der die Gouverneure, die Polizei und - mittels Bel-Alem, den Kabinettssekretär und Generalsekretär im Innenministerium - das gesamte Departement lenkte. In der Armee und im Verteidigungsministerium wird er bestimmt genau gleich vorgehen. Ich kann wenig dagegen ausrichten, aber diesmal werde ich den Offizieren durch meine Taten beweisen, dass ich die Korruption satt habe."

Nach dem Mittagessen erzählte Oufkir eine Reihe Anekdoten vom Hof, die ein Licht auf die Speichelleckerei der Minister gegenüber dem Tyrannen warfen. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, während seine Angriffe auf das Regime immer heftiger wurden. So berichtete er mir, dass der dunkelhäutige Minister Snoussi bei einer Ministerial- konferenz gesagt hatte: "Ich bin Ihr Sklave, Majestät", worauf Hassan ihn anherrschte: "Es reicht nicht, wenn du das sagst. Du musst es auch wirklich sein." Oufkir kommentierte dazu: "So hat diese Dynastie ihre Untergebenen stets betrachtet."

Beim Nachtisch forderte mich "der zweite Mann im Königreich" dazu auf, offiziell sein nächster Mitarbeiter, sein Adjutant, zu werden. Wir sollten zusammenarbeiten, um Marokko zu retten. Ich nahm das Angebot unter der Bedingung an, dass ich meine Panzertruppe behalten durfte. Oufkir gestand mir das zu. Von diesem Tag an war ich sein Vertrauter, und ich ging in seinem Haus ein und aus.

Ich sass zusammen mit Ministern und Generälen an seinem Tisch, die diesem mächtigen Mann ihre Aufwartung machten. Sie pflegten ihn alle öGeneral" zu nennen. Der gefürchtete, inzwischen zum Leiter der Spionageabwehr ernannte Dlimi wurde niemals eingeladen. Trotzdem glaubte ich, die beiden seien Freunde. Später entdeckte ich aber, dass sie Rivalen waren und dass der König sie rücksichtslos gegeneinander ausspielte. Oufkir schüttete mir oft sein Herz aus, wenn ich mit ihm im Auto sass. Wir bedienten uns dabei der französischen Sprache, welcher der mit uns im Wagen sitzende Leibwächter nicht mächtig war. Bisweilen fuhren wir auch ohne Chauffeur und ohne Leibwächter.

 

In einer Septembernacht, genauer gesagt um drei Uhr früh (denn Oufkir war ein Nachtmensch), kam der General auf das Skhirat- Komplott zu sprechen: "Tausend Unteroffiziersaspiranten hätten die Geschichte Marokkos zum besseren wenden können. Wir hätten dann in unserer Entwicklung einen hundertjährigen Sprung nach vorne gemacht. Wir müssen die Monarchie um jeden Preis loswerden. Hassan hält das Banner einer Dynastie hoch, die unser Vaterland an die Franzosen verschachtert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Katastrophe geführt hat.

Statt sich um die Staatsangelegenheiten zu kümmern, vernascht der König jetzt in Fes seine Nutten. Er hat einen Harem von 150 Frauen, von denen einige auf offener Strasse von seinen Bütteln entführt worden sind. Zudem ist er rauschgiftsüchtig. Sein Palast ist zum Haschischparadies geworden. Sein siebenjähriger Sohn nimmt bei Versammlungen teil, wo man seine Hand küssen muss. Es ist viel schlimmer als zu Zeiten Ludwigs des Vierzehnten.ö

Hassan regiert Marokko wie seinen Privatbesitz. "Eine Anekdote aus seiner Jugend wirft ein bezeichnendes Licht auf seine Persönlichkeit", bemerkte Oufkir. "Als er Kronprinz war, forderte sein Geographie- lehrer ihn auf, ihm ein paar Länder auf der Karte zu zeigen. Als der zukünftige Hassan II auf Marokko deutete, sagte er: 'Das ist der Hof meines Vaters.' In Marokko gibt es keine Trennung zwischen der Staatskasse und der Schatulle des Palastes. Hassan besitzt alles. Er regiert sein Land nach mittelalterlichem Muster und betrachtet sämtliche Minister als Sklaven. Er hat die absolute Macht inne.

Ausserdem ist er ein Zechbruder und dem Rauschgift hoffnungslos verfallen. Besonders dem Haschisch spricht er tagtäglich zu. Auch LSD fehlt auf der Liste seiner Lieblingsdrogen nicht. Ferner führt er ein lästerlich ausschweifendes Sexualleben. Mit Vorliebe vergewaltigt er jungfräuliche Mädchen, und ab und zu lässt er in Rabat Mädchen entführen, die dann später in seinem Palast auftauchen. Geht er auf Reisen, so befinden sich stets 50 bis 60 Frauen in seiner Gesellschaft, und die Palastwachen dürfen diese nicht einmal ansehen. Sie müssen sich umdrehen, wenn die Autos mit den Frauen durch das Tor fahren.

 

Seine sexuelle Besessenheit ist so gross, dass die Ehegattinen seiner Minister mit ihm ins Bett hüpfen müssen. Dies ist eine Art Tradition. Immer, wenn er eine Fˆte springen lässt, lädt er die Minister mit ihren Frauen ein. Zum Auftakt wirft er eine Handvoll Edelsteine auf den Boden, um die sich die Gäste dann raufen. Danach bittet er die eine oder andere Frau in sein Gemach, während die Minister glücksselig draussen warten, legt er ihre Gattinnen auf die Matratze. Die Minister sind stolz wie die Pfauen, wenn sie erzählen können, wie gut der König mit ihren Frauen auskommt.

Und nicht genug damit: er unterhält noch eine "spezielle Abteilung", deren Aufgabe darin besteht, ihm europäische Mädchen zu besorgen. Diese Sonderabteilung besteht aus zwei Zuhältern, von denen sich der eine "Doktor Robert" nennt, während der andere, ein Grieche, unter dem Namen "Mehdi" bekannt ist. Sie haben den Rang von "reisenden Botschaftern" inne, sind mit Diplomatenpässen ausgestattet und verfügen über zwei Privatflugzeuge, um Mädchen aus Europa einzufliegen. Man munkelt, der eine sei auf Blondinen und der andere auf Brunetten spezialisiert.

Hassans Hofschranzen sind auch nicht viel besser als er. Sein verstorbener Bruder, Moulay Abdallah, ein Schwuler, suchte sich seine öFreunde" mit Vorliebe unter den Söhnen der Minister aus. "Eines Tages nahm er meinen eigenen Sohn, Raouf, in sein Schloss Ifrane mit. Als ich davon erfuhr, wurde ich fuchsteufelswild und machte einen Riesenkrach", erinnerte sich Oufkir.

Er enthüllte ferner, dass der König fast den ganzen Drogenmarkt in Marokko unter seiner Kontrolle hatte. Dies ist ein offenes Geheimnis. In der Armeespitze und innerhalb der Verwaltung wissen alle, dass der Königspalast seit langen Jahren ein Umschlagsplatz für Narkotika ist und dass alle Mohn- und Haschischplantagen dem Monarchen persönlich gehören. Die Schüler an der königlichen Militärakademie in Kenitra sind allesamt Söhne der Offiziere in Hassans Leibgarde. Man gibt ihnen den Spitznamen "bahchouch", was "Haschischsöhne" bedeutet. Als ich Instrukteur an der Unteroffiziersschule bei Ababou in Ahermoumou war, kreuzte eine ganze Kohorte von ihnen dort auf und verursachte heillosen Úrger, weil sie jede Menge Haschisch mit sich führten, das sie ungeniert verteilten. 73 Bei den Privatfesten des Königs pumpen sich alle mit Drogen voll, und wenn ein Minister dankend ablehnt, wird er gleich als komischer Vogel abgestempelt, dem man nicht trauen kann. Wo Korruption und Dekadenz zum Bestandteil des Systems werden, muss man, will man Karriere machen, mit den Wölfen heulen.

Hassan trifft sich oft mit Grossdealern. Ich erinnere mich noch lebhaft, dass Oufkir einmal Besuch von einem Burschen erhielt, der sich öDoktor Bihi" nannte. Oufkir stellte ihn mir als "reisenden Botschafter seiner Majestät" vor. Mit entging nicht, dass sein Auftauchen dem Verteidigungsminister Bauchgrimmen bereitete. Nachdem er gegangen war, eröffnete mir Oufkir, dass der Titel unseres Besuchers als öDrogenbotschafter" zu interpretieren war. "Dokor Bihi" war der Drahtzieher diverser internationaler Verteilernetze. Er wohnte im Palast und hatte eine reguläre Beschäftigung. Marokko ist ein Paradies für Ganoven aller Schattierungen. Galgenvögel und Halsabschneider fühlen sich dort zu Hause.

Über die Ben-Barka-Affäre unterhielt sich Oufkir bei anderer Gelegenheit mit mir. Was er mir berichtete, wurde mir viele Jahre später von Dlimi bestätigt. Oufkir zufolge wurde der Mord an Ben Barka von König höchstpersönlich in Auftrag gegeben. Dabei bediente er sich einer geheimen Sonderpolizei, welche er bereits als Kronprinz auf die Beine gestellt hatte, um gegen seinen Adoptivvater Mohamed V zu intrigieren. Sie trug den Namen "Special security service", abgekürzt SSS. Mit Hilfe des SSS kontrolliert der Monarch den Nachrichtendienst und sogar die Armee.

An der Spitze dieser Sondereinheit steht General Moulay Hafid Alaoui, ein Angehöriger der Königsfamilie und einer der engsten Berater Hassans. Bei der Schulung des SSS standen CIA- und Mossad- Experten Pate. Niemand ausser Hassan und seinen nächsten Mitarbeitern sind über die Einzelheiten dieser Organisation informiert; vielen ist sogar ihre Existenz unbekannt.

 

Der SSS stand hinter der Ermordung des bedeutenden Nationalistenführers Cheik Al-Arab anno 1964, hinter der Entführung eines im Exil weilenden Regimegegners, Hussein Al-Manuzi, auf dem Flugplatz von Tunis im Jahre 1973 sowie hinter dem Meuchelmord an Omar Ben Jeeloun, dem Chefredakteur der marxistischen Zeitung "Al Moharir". Auch Ben Barka hat der SSS auf seinem Gewissen. Einige Tage vor dessen Ermordung rief Hassan Oukfir und Dlimi zu sich und erteilte ihnen den Auftrag, nach Paris zu fliegen und dort mit Ben Barka über seine Heimkehr nach Marokko zu verhandeln. Dieses Treffen war als Falle sowohl für Ben Barka als auch für Oufkir und Dlimi geplant.

Als die beiden Minister in Paris angelangten, entdeckten sie, dass Ben Barka bereits entführt und umgebracht worden war. Bei den Mördern handelte es sich um französische Berufskiller, die Hassan mittels des SSS angeheuert hatte. Ganz offenkundig verfolgte der König die Absicht, den Ruf Oufkirs und Dlimis zu ruinieren, indem er sie als Komplizen der Mörder erscheinen liess. Dadurch sollten sie noch abhängiger von ihm werden. Sie kehrten erbost nach Marokko zurück und mussten es sich gefallen lassen, dass die französische Regierung sie der Mittäterschaft zieh. Natürlich wusste General De Gaulle genau, was gespielt wurde, und er sprach offen aus, dass der eigentliche Verantwortliche Hassan II selbst war.

Oufkir teilte mir mit, auf Befehl des Königs sei Ben Barkas Leiche mit Chemikalien aufgelöst und sein Kopf von SSS-Agenten in der marokkanischen Botschaft in Paris in einem Diplomatenkoffer nach Rabat geschickt worden. Der Kopf wurde innerhalb der Palastmauern begraben, ganz in der Nähe der juristischen Fakultät. Einem Feind den Kopf abzuhacken und diesen dann innerhalb der Mauern seines eigenen Hauses zu vergraben stellt in dieser aus einem alten Piraten- und Banditengeschlecht hervorgegangenen Königsfamilie eine ziemlich alte Tradition dar.

Ben Barka war, wie bereits früher gesagt, der Mathematiklehrer Hassans gewesen. Von ihm war der Vorschlag ausgegangen, ihn zum Kronprinzen zu ernennen. In Hassans Familie empfand man es als peinlich, in der Schuld eines gewöhnlichen Sterblichen zu stehen.

75 So hatte der Grossvater des Königs einen Soldaten getötet, der ihn vor dem Ertrinkungstod errettete, als er beim Durchqueren des Flusses Souss vom Pferde gefallen war. Hassan selbst liess die Soldaten beseitigen, die ihn in Skhirat vor dem Tode bewahrt hatten. Er liess Major Assari degradieren, welcher nach dem gescheiterten Skhirat- Putsch die Attacke gegen Ababou in Rabatt geleitet und auf diese Weise die Monarchie gerettet hatte. Schliesslich liess er auch allen marokkanischen und ausländischen Agenten das Lebenslicht ausblasen, die am Mord an Ben Barka beteiligt und dann nach Marokko geflohen waren.

Manchem mag es vielleicht so vorkommen, als stelle ich Oufkirs und Dlimis Rolle beim Ben-Barka-Mord zu schönfärberisch dar. Dabei gilt aber zu bedenken, dass sie mir alles im Vertrauen berichtet haben und nie daran dachten, dass es je publik werden würde. Zudem hatte Oufkir ein Dossier über die Ben-Barka-Affäre zusammengestellt, das zu gegebenem Zeitpunkt veröffentlicht werden sollte. Übrigens pfiffen es die Spatzen von den Dächern, dass sowohl Oufkir als auch Dlimi nur durch ihre jahrelangen Handlangerdienste für die Diktatur und ihren Kampf gegen die Opposition Karriere gemacht hatten.

Uns, den "freien Offizieren", war es klar, dass in einem zukünftigen, befreiten Marokko, keiner der beiden je eine wichtige Rolle spielen würde, aber wir brauchten sie. Unsere "Ehe" mit Oufkir und Dlimi war von Anfang an eine "Vernunftsehe". Beide waren ursprünglich in Frankreich ausgebildete Berufsmilitärs im Solde der Kolonialmacht. Das galt ohnehin für die gesamte marokkanische Armee. Unter einer demokratischen Regierung wären sie auch Demokraten gewesen, doch so wurden sie von Hassan genauso ausgenutzt wie früher von den Franzosen.

Im Grunde genommen waren bloss die Politiker wie beispielsweise Ben Barka für die Misswirtschaft des Regimes verantwortlich; die Soldaten führten lediglich Befehle aus. Nun waren aber die Politiker ausschliesslich auf ihren eigenen Vorteil bedacht und biederten sich deshalb beim König an.

 

Als Dlimi und Oufkir allmählich entdeckten, dass sie in den Augen des Herrschers nur die Rolle von Kettenhunden zu spielen hatten und dass die ganze Armee wenig mehr als eine Leibgarde Hassans war, begannen sie sich zu ändern. Der König benutzte sie als Hammer, doch ein Hammer erhält ja gleich viele Schläge wie der Nagel, auf den er trifft, und nimmt schliesslich auch Schaden. Als sie sich voll bewusst geworden waren, wie verkommen der König und sein Regime waren, entschieden sie sich, ihrer Verantwortung als Bürger und Menschen gerecht zu werden, indem sie den Versuch unternahmen, die herrschende Clique zu stürzen.

Ich selbst war grimmig entschlossen, mich niemals politisch zu prostituieren, und ich wollte mich unter keinen Umständen vor den Karren der neokolonialistischen herrschenden Kaste spannen lassen. So ganz war ich von Dlimis und Oufkirs Unschuld in der Ben-Barka- Affäre nie überzeugt. Doch für meine Generation waren Ben Barka und Oufkir bloss zwei Seiten derselben Medaille; sie hatten sich viel zu tief mit dem Regime eingelassen, auch wenn sie sich später änderten. Sollte mein Land je die Monarchie abschütteln und demokratisch werden, dachte ich mir, so werde es wohl an der Zeit sein, sich von Oufkir zu distanzieren und ihn wenn nötig zu bekämpfen.

Was mir Oufkir über die Zustände am Hof berichtet hatte, erschütterte mich zutiefst. Einmal konnte ich meine Gefühle nicht mehr verbergen, und ich sagte: "Sie haben mir eine grosse Ehre erwiesen, indem Sie sich mir anvertraut haben. Ich bin bereit, eine Selbstmordattacke zu unternehmen, um den König hinzurichten." "Nein", wehrte er ab, "das ist meine eigene Aufgabe. Ich bin nicht gewillt, die Ehre, den Tyrannen gerichtet zu haben, einem anderen zu überlassen." Der Hass auf den Terrorpotentaten und die Unterdrückung ist in Marokko sehr tief verwurzelt, und Hassan steht für alles, was in unserem Land faul ist.

Von diesem Tage an waren Oufkir und ich Verbündete. Ich schlief in einem Zimmer in Oufkirs Villa in Souissi und fuhr von dort allmorgendlich zur Moulay-Ismail-Verlegung, wo ich immer noch Befehlshaber meiner Panzereinheit war.

 

Mein mächtiger Verbündeter war bald sehr gesprächig, bald äusserst schweigsam. Er sprach mit mir oft über Nasser und dessen ideologisches Manifest "Nationale Charta", das er gründlich studiert hatte.

Die amerikanischen Basen in Marokko hatten seiner Auffassung nach zu verschwinden. "Die grösste all dieser Basen ist der Königspalast", meinte er. "Stimmt", pflichtete ich ihm bei. "Die wichtigsten Basen des Neokolonialismus sind nicht mehr militärischer Art, wie es beim herkömmlichen Kolonialismus der Fall war, sondern "konomischer, kultureller und politischer Natur.ö

 


(INDEX)

 

Neue Pläne für eine Revolte

Die Vorbereitungen für unseren ersten Putschversuch liefen drei Monate nach der gescheiterten Skhirat-Revolte an. Sowohl Oufkir wie auch ich hatten mancherlei Pläne ausgearbeitet. Bei einer Autofahrt weihte mich der General in einen seiner Pläne ein. Dieser erschien mir einfach und erfolgversprechend. "Fast jeden Donnerstag kommt Hassan, der ja auch oberster Befehlshaber der Streitkräfte ist, zum Stab, um das Treffen der Korpskommandanten zu leiten. Im Konferenzsaal gibt es einen versiegelten Safe in der Wand. Ich schliesse dort eine MP ein. Wenn Hassan eintrifft, brauche ich nur nach der Waffe zu greifen, um ihn festnehmen zu können. Ich befehle ihm: Hände hoch! Dann halte ich eine improvisierte Ansprache, in der ich seinen sofortigen Rücktritt verlange.ö

Er fertigte eine Skizze an, welche die Beschaffenheit des Saales zeigte und auf der zu sehen war, wo sich der Safe befand und wo die Korpskommandanten und Stabschef sassen. "Sobald Hassan die Abdankungsurkunde unterzeichnet hat, sage ich den Offizieren, ich hätte im Namen des Volkes gehandelt. Ich habe dann ein Tonbandgerät bei mir, auf dem ich ein Kommuniqu‚ abspiele. Dieses wirst du verfassen.

Als nächstes rufe ich General Driss Ben Omar an, den Minister für Post- und Fernmeldewesen, und fordere ihn auf, sich mir zur Verfügung zu stellen. Er willigt bestimmt mit Freuden ein. Auch Hassans Bruder, Prinz Moulay Abdallah, erhält von mir einen Telefon- anruf. Unter irgendeinem Vorwand lasse ich ihn herbeikommen, und dann verhafte ich ihn. Schlussendlich berufe ich die Kommandanten sämtlicher militärischer Einheiten im Gebiet der Hauptstadt ein.

Du wartest währenddessen im Büro neben dem Konferenzsaal auf mich. Ich gebe dir dann ein Zeichen, du fährst mit deiner Panzertruppe so rasch wie möglich zur Radio- und Fernsehstation. Diese stürmst du und sendest darauf das erste revolutionäre Kommuniqu‚, das du auf deinem Tonband bei dir trägst."

 

Mit Hilfe eines einfachen, in einem Geschäft in Rabat gekauften Tonbandgeräts nahm ich eine in arabischer Sprache verfasste Deklaration auf, die ich zuvor dem General vorgelegt hatte. Er billigte sie nach einigen geringfügigen Únderungen. Auf seinen Wunsch hin hob ich die Worte "Revolution" und "im Dienste des Volkes" besonders hervor. Hier folgen die wichtigsten Abschnitte der Erklärung:

Die Islamische Republik Marokko! Freiheit, politische und wirtschaftliche Demokratie, islamische Einheit!

Im Namen Gottes und des Volkes, der Gerechtigkeit und der Menschenrechte, im Namen aller Märtyrer, für das Selbstbestimmungsrecht des Volkes und aufgrund dessen Willen, seine Regierungsform selbst zu wählen und selbst über sein Schicksal zu entscheiden, rufen wir eine islamische Republik aus und erklären die Monarchie für abgeschafft, die vom Koran verboten ist!

Wir geben bekannt, dass der Tyrann, Diktator und Narr Hassan von einem provisorischen revolutionären Gericht wegen seiner Verbrechen und Mordtaten gegen unser Volk zum Tode verurteilt und erschossen worden ist. Ein provisorischer Revolutionsrat wird bis auf weiteres das Land regieren, bis ein Revolutionsrat durch direkte, allgemeine Wahlen bestimmt worden ist. Das Heer hat den König entwaffnet, um den Volkswillen zu bewaffnen.

Die Männer, die heute an der Spitze der Revolution stehen, können nicht zaubern, um die Erwartungen des Volkes zu verwirklichen. Wir haben lediglich den König gestürzt. Es ist nun Sache des Volkes, Schluss mit der Unterdrückung und Ausbeutung zu machen, die von Tausenden von kleinen Königen überall im Lande ausgeht. Wir werden unsere Bajonette fortan gegen die Tyrannen richten und nicht gegen das Volk.

 

Alles war für den grossen Tag vorbereitet. Es war ein Novemberdonnerstag. Oufkir hatte die Maschinenpistole mitsamt dem Tonbandgerät in den Safe gelegt. Am folgenden Tag setzten wir uns in ein Auto, an dessen Steuer ein Unteroffizier sass. Bei der Stabskaserne stiegen wir aus und nahmen den Gruss der Ehrenwache entgegen. Ich war festentschlossen und voll wilder Begeisterung. Oufkirs Ruhe beeindruckte mich.

Er drückte meine Hand und betrat den Konferenzsaal. Im Büro nebenan wartete ich eine halbe Stunde, vielleicht auch eine ganze, ich weiss es nicht genau, denn die Zeit kam mir endlos vor. Endlich wurde die Tür geöffnet. Der General trat auf mich zu und sagte mir betrübter Miene: "Es ist nichts mit unserem Plan. Der König hat eben angerufen und ausrichten lassen, dass er nicht kommt.ö

Sieben nervenzermürbende Tage lang warteten wir auf den nächsten Donnerstag. Auch an jenem Tage erschien der Monarch nicht zu dem schicksalhaften Treffen. Wie mir Oufkir mitteilte, hatte der König bestimmt, dass die Versammlungen fortan im königlichen Palast stattfinden sollten. "Dann erledigen wir ihn eben dort", schlug ich vor. öViel zu riskant", wehrte er ab. "Wir müssen einen anderen Plan ausdenken.ö

Kurz vor Jahresende bat Oufkir Hassan, die Kaserne zu besuchen, in der die Sicherheitsbrigade BLS (öBrigade L‚gÜre de S‚curit‚ö) stationiert war. Hassan roch offenbar den Braten und erschien nicht. Ein anderes Mal warteten wir in der Moulay-Ismail-Kaserne vergeblich auf ihn, wo meine eigene Panzerkompanie ihr Zuhause hatte. Es war das Schafsfest, "Aid el Kebir". Wieder eine verpasste Gelegenheit!

Bald darauf entkam Oufkir mit knapper Not einem Helikopterunfall in Agadir. "Hassan hat den Heli mit hundertprozentiger Sicherheit sabotieren lassen", versicherte er mir. In Marokko heisst es, Hubschrauber seien da, um Generäle abstürzen zu lassen.

 

Wir glaubten im März 1972 würden wir unsere Mission erfüllen können. Hassan sollte an einer Konferenz in der Offiziersmesse teilnehmen. Im Konferenzsaal gab es auch einen Filmraum. Dort versteckte Oufkir seine Waffe. Doch der misstrauisch gewordene König kam nie zum Treffen.

Der nächste Versuch wurde anfang Juni 1972 unternommen. An jenem Tage gab Prinz Moulay Abdallah in seiner Sommerresidenz zehn Kilometer nördlich des Skhirat-Palastes einen privaten Empfang. Anlass zur Festlichkeit war seine Ernennung zum "persönlichen Stellvertreter des Königs". Laut Oufkir würde Hassan dem Empfang beiwohnen. An einem Juniabend, um 21 Uhr, rief mich Oufkir an und forderte mich auf, mich in seiner Villa in Souissi einzufinden.

Nach meiner Ankunft teilte er mir mit, der Monarch werde um 22 Uhr in Abdallahs Sommerpalast eintreffen, und zwar ohne eine grössere Anzahl von Leibwächtern. Wir fassten den Beschluss, mitten während des Festes einen Überraschungsangriff zu landen. Unsere Gruppe sollte nur aus vier Personen bestehen: Dem General, mir sowie zwei von Oufkirs Leibwächtern.

Im Gepäckraum des BMW verstaute ich vier Maschinengewehre aus Oufkirs Arsenal, von denen eines mit einem Schalldämpfer ausgerüstet war, vier Maschinenpistolen, einige Munitionskisten sowie zwei Tarnanzüge und zwei Schirmmützen mit Rangabzeichen (wir waren alle vier in Zivil gekleidet). Die Festteilnehmer waren nicht darüber informiert, dass der König sie mit seinem Besuch beehren wollte.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ein geheimes Militärgericht Hassan II wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen den Islam und das marokkanische Volk zum Tode verurteilt hatte. Gleich zum Beginn des Putsches sollte der König hingerichtet werden; die übrigen Festteilnehmer wollten wir festnehmen. Dann würden wir nach Rabat fahren, wo ich die Operation mit meinen Panzertruppen abschliessen sollte.

 

Ehe wir Oufkirs Schlafzimmer verliessen, wo wir die letzten Einzelheiten besprochen hatten - es war nun rund 22 Uhr -, küsste der General den Heiligen Koran und erklärte: "Ich tue dies für mein Land." Ich nahm ihm dann der Koran aus der Hand, legte meine Hand darauf und schwor, dass ich bereit war, mein Leben für die Sache Gottes und des Volkes im Kampf gegen Tyrannei, Unrecht und Sklaverei zu opfern.

Als wir zur Residenz des Prinzen in Fallouka gelangten (auf dem Weg zwischen Skhirat und Rabat), erblickten wir zu unserem Schrecken ein rundes Dutzend Polizeiautos vor dem Gebäude. Wenn der König inkognito unterwegs war, wurde er gewöhnlich nicht von einer derart grossen Eskorte begleitet. Das Hauptereignis bei solchen königlichen Vergnügungen besteht darin, dass sich die Gäste mit Wein und Schnaps die Bäuche volllaufen lassen.

Auf der anderen Seite des Palastes war ein Lastwagen mit Soldaten der königlichen Leibwache parkiert. Oufkir, der nicht zu den geladenen Gästen gehörte, ging allein in das Gebäude, um das Terrain zu sondieren. Währenddessen wartete ich draussen. Zwei Stunden später kehrte er zurück. "Es ist technisch unmöglich", teilte er mir niedergeschlagen mit.

Ein weiterer Versuch schlug zwei Wochen später fehl. Er ähnelte dem ersten, der in der Kaserne des Armeestabs hätte stattfinden sollen. Oufkir hatte Hassan gebeten, für die Offiziere einen Vortrag über ömoderne Strategie" zu halten. (Hassan ist nämlich felsenfest davon überzeugt, dass er etwas von Strategie versteht, doch sind die einzigen einschlägigen Schriften, die er ernsthaft studiert hat, Macchiavellis öFürst" und die "Protokolle der Weisen von Zion". Unser König ist nämlich ein glühender Bewunderer Macchiavellis und der Juden.)

Der Vortrag sollte in der Kantine des Armeestabs über die Bühne gehen. Auch diesmal war geplant, dass Oufkir den Monarchen während der Zusammenkunft überrumpeln sollte; im folgenden würde alles so ablaufen, wie wir es beim ersten Versuch geplant hatten. Aus unbekannten Gründen fand sich der König nicht ein.

 

Um der Welt gleich klarzumachen, welche Richtung unsere Revolution verfolgte, hatten wir den Plan geschmiedet, noch am Tage des Putsches den ägyptischen Journalisten Mohamed Heykal einzuladen. Dieser ist ein bekannter Nasser-Anhänger. Zum damaligen Zeitpunkt war er Chefredakteur der Kairoer Zeitung Al-Ahram. Damals war die islamische Erweckungsbewegung noch keine revolutionäre Kraft wie heutzutage. Die damalige Moslembruderschaft stand den Monarchien in Saudiarabien und Marokko näher als den Revolutionären.

Dass Hassan zu den verschiedenen Verabredungen nicht erschien, lag wohl vor allem daran, dass er allzu beschäftigt mit seinem Privatleben war. Seine Hauptinteressen sind Haschisch, Frauen und Golf, was bedeutet, dass er ein vielbeschäftigter Mann ist und leider nicht mehr allzu viel Zeit findet, um sich den lästigen staatspolitischen Pflichten zu widmen.

Sein Tagesprogramm sieht gewöhnlich etwa so aus: Er steigt ca. um 11 Uhr aus dem Bett, fährt zum Golfplatz und spielt bis ca. 12'30 Uhr. Während er sich dem Golfspiel hingibt, laufen ihm Minister und höhere Offiziere nach, damit er allerlei Urkunden unterschreiben kann. Um 16 Uhr empfängt er vor surrenden Fernsehkameras Gäste (er legt allergrössten Wert darauf, tagtäglich am Fernsehen zu erscheinen). Am Abend ist es dann schon wieder höchste Zeit für Nutten und Hasch. Diesen Freuden widmet er sich bis tief, tief in die Nacht hinein.

Vor dem Gipfeltreffen der Organisation für afrikanische Einheit, die 1972 in Rabat abgehalten wurde, liess der König sämtliche Heeres- einheiten in Alarmbereitschaft versetzen. Nicht einmal die Offiziere bekamen Urlaub. Ich schlug Oufkir vor, wir sollten am 10. Juli, dem Geburtstag Hassans, einen neuen Putschversuch unternehmen, also genau ein Jahr nach der Skhirat-Revolte. Im Skhirat-Palast würde dann mit grossem Pomp eine Zeremonie stattfinden, zu der die üblichen Gäste eingeladen waren. Der General verwarf meinen Plan, aber ich begab mich auf eigene Faust zum Palast, um der schandbaren Geburtstagsfeier beizuwohnen.

 

Zum zweiten Male befand ich mich im Palast in Gegenwart des Menschenschinders und sah mir sein Gesicht an, auf dem tausend Laster ihre Spuren hinterlassen hatten. Als Cowboy ausstaffiert, schäkerte er mit seinen katzenbuckelnden Gästen. Zum Auftakt forderte er sie in französischer Sprache auf, zum Gedenken an die Opfer im vergangenen Jahr am gleicher Stelle verübten Verrats einige Schweigeminuten einzuschalten.

Am folgenden Abend lud der König Oufkir zu einem Empfang ein, der die Bezeichnung "Nacht der Frauen" trug. Nach seiner Rückkehr erzählte der General zutiefst angewidert, dass Hassan sternhagelvoll gewesen war. Er hatte allen anwesenden Frauen die Hand geküsst und ihnen dann eine Handvoll Juwelen hingeworfen. Die hohen Damen, Ehegattinnen oder Geliebte der Minister und höheren Beamten, hatten sich darauf gestürzt und sich um die kostbaren Steine gebalgt. Hassan war so besoffen und dazu mit Drogen vollgepumpt, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Zwei Leibwächter stützten ihn die ganze Zeit über, wobei sie unablässig schnarrten: "Lange lebe Amir al- Mouminen" (öder heilige Führer der Gläubigenö).

Während eines Mittagessens im Hause Oufkirs wurden die letzten Einzelheiten des Plans zum Sturz König Hassans des Zweiten ausgearbeitet. Am nächsten Tag sollte der Monarch zur Abdankung gezwungen oder, im Falle einer Weigerung, von einem revolutionären Geheimtribunal zum Tode verurteilt und hingerichtet werden. Nun, beim Mittagessen, wurde es endgültig beschlossen: Der darauffolgende Tag, der 16. August 1972, sollte der letzte Tag sein, an dem Marokko von einem Mann beherrscht wurde, den beide Tischgäste als Despoten und Tyrannen betrachteten und von Herzen verabscheuten.

Ein Jahr heimlicher Überlegungen und genauer Planung war ver- gangen. Der Zeitpunkt zum Sturz des Gewaltherrschers war da. Die beiden Männer am Tisch waren sich über alle Details des bevor- stehenden Staatsstreichs einig; die Untergrundarbeit des verflossenen Jahres hatte uns zusammengeschweisst. Wir vertrauten einander so sehr, wie zwei Menschen einander in einer Situation vertrauen können, in der sie beide Gefahr laufen, durch Irrtum oder Verrat zu scheitern und unter langen Folterqualen zu sterben.

 

Unser Ziel war dasselbe, zumindest kurzfristig: den König zu stürzen. Doch so sehr ich auch die taktischen Vorteile einer Zusammenarbeit begriff, war ich mir stets im klaren darüber, dass wir eigentlich zwei grundverschiedene Menschen waren, und es ist schwer vorstellbar, wie unsere Zusammenarbeit auch nur die ersten Stunden des Triumphs nach einer geglückten Revolution hätte überleben können.

Die Luxusvilla, in der wir beim Mahle sassen, lag im vornehmen Viertel Souissi am Rand der Haupstadt Rabat. Gastgeber war General Mohamed Oufkir, Verteidigungsminister und Armeechef, nächst dem König der mächtigste Mann Marokkos. General Oufkir war 52 Jahre alt, der Abstammung nach Berber und im Dorf Ain Chair in der Nähe von Ksar-Souk im Hohen Atlasgebirge geboren, wo sein Vater Stammeshäuptling gewesen war.

Ich, sein Gast, war ein junger Panzerleutnant, der ungefähr 25 Jahre zählte. Mein genaues Alter ist mir nicht bekannt, weil in dem kleinen Berberdorf in Südmarokko, wo ich das Licht der Welt erblickte, keine Geburtsregister geführt wurden. Einige Jahre zuvor war ich zum engsten Mitarbeiter des Generals sowie zu seinem persönlichen Adjutanten ernannt worden, was zur Folge hatte, dass mein Einfluss weit grösser war, als mein niedriger Offiziersrang erahnen liess.

An diesem schicksalshaften Tag waren wir beide gezwungen, einander zu vertrauen, da wir uns zur Zusammenarbeit bei einem Unternehmen entschieden hatten, das uns beide das Leben kosten konnte, falls es vorzeitig aufgedeckt wurde. Und dennoch: noch ein gutes Jahr zuvor war General Oufkir der Mensch gewesen, den ich, vom König selbst abgesehen, am meisten von allen verabscheute.

Damals stand Oufkir für all das, was mir am stärksten zuwider war: Willkürherrschaft, Despotismus, Unterdrückung, Korruption und ganz besonders Unmoral. Der General deckte ein System, welches allen fundamentalen Werten des islamischen Glaubens zuwiderlief, denn diese sprechen nicht von Königen oder Fürsten, sondern von Menschen gleichen Ranges.

 

Der General stand an der Spitze eines Heeres, das nicht dort eingesetzt wurde, wo es meiner Überzeugung nach hätte eingesetzt werden müssen, nämlich im Kampf für die Einigung der Muselmanen und Araber, für die Rechte der Palästinenser und gegen den Okkupanten- staat Israel.

Nein, die Streitkräfte wurden in Marokko zurückgehalten, um Ungerechtigkeit und Stagnation zu schützen, um auch den geringsten Ansatz zu einem Volksprotest gegen die sozialen Missstände abzuwürgen, die man doch buchstäblich mit Händen greifen konnte, wenn man sich nur die Mühe nahm, sich einige hundert Meter vom Königspalast zu entfernen und den entsetzlichen Slum in Chella zu betreten, der in einem Tal gleich unterhalb der Palastmauern lag, oder seine Füsse ins Slumquartier Jaacob el Mansour unten beim Strand zu setzen, wo 35'000 Menschen bloss einige Kilometer vom Luxusviertel entfernt zu überleben versuchen.

Ja, die Ungerechtigkeiten waren für jeden ersichtlich, der sie sehen wollte. Menschen lebten in tiefster Erniedrigung und ohne Hoffnung. Sie sahen dem morgigen Tag mit Bangen entgegen; ihre Existenz konnte urplötzlich ein Ende nehmen, ohne jegliche Spuren zu hinterlassen, und nichts würde dann darauf hindeuten, dass hier ein Mensch gelebt und geatmet und auf eine gerechtere, sorgenfreie Welt zu hoffen gewagt hatte. Das Dasein dieser Menschen glich einem flackernden Licht, das jäh erlöschen konnte, weil die Schergen des Königs sie aufgespürt und dafür zur Verantwortung gezogen hatten, dass sie es wagten, ein besseres Leben zu fordern.

Seitdem ich als Student in der Mitte der sechziger Jahre politisch bewusst geworden war, hatte ich Oufkir verabscheut, bekämpft und gefürchtet. Er war zuerst Polizeichef und dann Innenminister. 1965 stand er an der Spitze der Truppen, die eine spontane Revolte für Menschenrechte, für mehr Brot und vielleicht auch für ein wenig mehr Freiheit niederschlugen. Ich selbst wurde damals festgenommen und als einer der Rädelsführer gefoltert.

 

Nun sass ich am 15. August 1972 demselben Oufkir am Mittagstische gegenüber und besprach die letzten Einzelheiten eines Plans, um mit der Tyrannei Schluss zu machen, die der General selbst mitgetragen hatte. Oufkir hatte sich geändert, nicht ich.

Wir waren jetzt Partner in einem Unterfangen, das für uns mit Marter und Tod enden konnte. Binnen vierundzwanzig Stunden konnte jeder von uns beiden tot sein. Sollte unserem Wagnis aber Erfolg beschieden sein, so würden wir unweigerlich wieder zu Gegnern werden. Allzu verschieden war unser Hintergrund, unsere Erfahrung, unsere ideologische Überzeugung und unsere Auffassung von Gerechtigkeit. Oufkir war ein Mann der Vergangenheit. Ich verkörperte die Zukunft.

Ich war bereit, mich mit dem Leibhaftigen selbst zu verbünden, wenn dies zum Sturz des Tyrannenregimes in Marokko führen konnte, dachte ich später. Während des Tischgesprächs konnten wir einen unklaren Punkt in unserem Plan beilegen. Der König hatte mitteilen lassen, er werde am nächsten Tag mit dem Flugzeug von Frankreich nach Marokko zurückkehren. Im Verlauf des Vormittags hatte Oufkir diese Nachricht vernommen.

Der Reserveplan, der darin bestanden hatte, das Schiff des Monarchen zu überfallen, konnte somit ad acta gelegt werden. Die Verwantwortung lag nun bei der Luftwaffe. Drei Kampfflugzeuge sollten in dem Augenblick, wo sich König Hassans Boeing 727 der marokkanischen Küste näherte, auf diese zufliegen, scheinbar als Begleitflugzeuge, doch der Befehl der Piloten lautete dahin, das Flugzeug des Königs zur Landung auf dem Militärflugplatz in Kenitra zu zwingen. Dort sollten die aufständischen Truppen über das Geschick des Herrschers entscheiden. Zum Abschluss des Mittagessens zitierten wir nach altem Ritus dies Sure Al Fatiha aus dem Koran.

Um sechs Uhr früh fielen am 16. August 1972 die ersten Sonnenstrahlen auf die 13 Jäger, welche auf dem Mililtärflugplatz von Kenitra, drei Meilen nördlich der Hauptstadt Rabat, stationiert waren. Es war ein idealer Tag zum Fliegen.

 

Bei den Maschinen handelte es sich um amerikanische Flugzeuge des Typs Northrop F 5. Sie waren fast alle Jäger, die der marokkanischen Luftwaffe zur Verfügung standen. Bewaffnet waren sie mit unbeweglichen Kanonen. Bei Angriffen auf Bodenziele waren diese eine erstklassige Waffe, doch zur Bekämpfung von Luftzielen eigneten sie sich bedeutend weniger.

Unter dem gesamten Personal des Luftstützpunkts, inklusive den 450 Amerikanern im US- Sektor, denen unter anderem die Ausbildung der marokkanischen Piloten anvertraut war, gab es nur einen einzigen Mann, der vom bevorstehenden Staatsstreich wusste. Dieser Mann war Major Kouera, Leiter des marokkanischen Stützpunktsektors.

Am Vorabend hatten Kouera und einer seiner Vorgesetzten, Vizeluftwaffenkommandant Mohamed Amkrane, General Oufkir in einer Bar in Casablanca getroffen und die letzten Instruktionen erhalten, die ich mit Oufkir zusammen ausgearbeitet hatte. Sowohl Kouera als auch Amkrane waren in Rif geboren, einer ärmlichen Berggegend in Nordmarokko.

Beide waren Berber und hatten keinesfalls vergessen, mit welcher Brutalität der damalige Kronprinz und Armeechef und heutige König im Jahre 1958 einen Aufstandsversuch der dortigen Bevölkerung unterdrückt hatte. Es war die letzte von vielen Revolten gegen die neokolonialistische Zentralmacht, die von Rif ausgegangen war. Es hatte keiner sonderlichen Überredungskunst bedurft, um die beiden für die Widerstandsbewegung der "Freien Offiziere" zu gewinnen.

Bereits im April hatte Amkrane vom Plan der "Operation Überfliegen" erfahren. Er hatte Oufkir dann mitgeteilt, wegen seiner schlimmer werdenden Nierenkrankheit könne er keinen F 5 fliegen. Als Stellvertreter hatte er den Kommandanten des Luftwaffenstützpunkts Kenitra, Major Kouera, vorgeschlagen.

 

Am 15. August, also dem Tag vor dem Putsch, trafen sich alle drei bei Madame Lazrak, der Gattin eines ehemaligen Finanzministers. Oufkir hatte die letzten Einzelheiten des Plans enthüllt und hinzugefügt, dessen Gelingen sei hundertfünfzig-prozentig sicher. Sollte trotzdem irgendetwas schiefgehen, so würde sich Oufkir auf dem Flugplatz von Rabat-Sal‚ befinden und selbst den Befehl über die dortigen Truppen übernehmen.

Zwei andere auf der Luftbasis stationierte Militärs, Hauptmann Lhjad Larabi und Leutnant Hassan Midawi, wussten an jenem schicksalhaften Morgen des 16. August noch nicht, dass sie dazu auserkoren waren, die beiden anderen Eskortflugzeuge zu steuern.

Aus Sicherheits-erwägungen und zur strikten Wahrung des Geheim- nisses hatten Oukfir und ich beschlossen, dass nur die unmittelbar bei der Operation Beteiligten in den Plan eingeweiht werden sollten. Ausser Oufkir und mir kannten lediglich Amkrane und Kouera die "Operation Überfliegen".

General Oufkir tat während der Nacht vom 15. auf den 16. August kein Auge zu. Er blieb bis zum Morgengrauen auf und fuhr dann, ohne jemandem ein Wort zu sagen, nach Temara, unmittelbar südlich von Rabat. Gegen elf Uhr kehrte er in seine Villa in Souissi zurück.

Er hatte zusammen mit Vizeluftwaffenkommandant Amkrane Oberst Lyoussi getroffen, den Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte. Oberst Lyoussi hatte sich dazu überreden lassen, drei F-5-Maschinen auszusenden, die den König bei seiner Heimkehr nach Marokko eskortieren sollten.

Auf König Hassans Schloss nahe der Stadt Beauvais, acht Meilen nördlich von Paris, traf man an jenem Morgen Vorbereitungen für die Rückkehr nach Marokko. Der Monarch hatte im Rahmen eines Privatbesuchs drei Wochen auf jenem Schlosse zugebracht.

 

In seiner Gesellschaft befand sich unter anderem auch Oberst Ahmed Dlimi, Kommandant der königlichen Adjutanten und ehemals höchster Polizeichef. Unter Einbeziehung der Hofschranzen, Konkubinen, Regierungsmitglieder und Leibwachen - letztere wurden von einem französischen Söldner, Kommissar Sassia, kommandiert - waren es rund hundert Personen, die nun, wo die Sommerferien zu Ende waren, mit dem König nach Marokko zurückfliegen sollten.

An jenem Tage stieg ich wie gewöhnlich um sechs Uhr auf und nahm mein Frühstück zu mir. Den General sah ich am Morgen nicht. Nach dem Frühstück fuhr ich in meinem Fiat zur Verlegung. Auf dem Hintersitz lag meine grüne Felduniform, die ich dann in der Verlegung anziehen würde. Ich dachte daran, was der General gesagt hatte, als er mich um halb vier weckte. Er war gerade von Casablanca zurückgekommen, wo er mit Amkrane und Kouera in einer Bar auf der Avenue Hassan II. ein letztes Gespräch geführt hatte.

öNun liegt alles in Gottes Händen", hatte der General gesagt. "Alles ist wohl vorbereitet, und die Lage sieht gut aus." Er wollte noch ein letztes Mal die Tonbandaufnahme unseres Kommuniqu‚s hören, welches ich entworfen hatte und dass wir nach dem geglückten Staatsstreich am Rundfunk verlesen wollten.

Ich empfand seltsamerweise weder Nervosität noch Angst, sondern fühlte mich glücklich. Mein ganzes Leben lang hatte ich auf diesen Tag gewartet, an dem ich mich am Sturz des Tyrannenregiments in Marokko beteiligen würde. Deshalb war ich von Begeisterung erfüllt, aber äusserlich ganz ruhig und kühl.

Die Möglichkeit eines Scheiterns zog ich gar nicht erst in Betracht. Es schien sich von selbst zu verstehen, dass alles nach Plan verlaufen würde. Die Aussicht, selbst dabei mitzuwirken, wie der Lauf der Geschichte in meinem eigenen Land verändert wurde, erfüllte mich mit einem phantastischen Gefühl, und ich war dem Schicksal dankbar, dass es mir diese Rolle zuteil werden liess. Freudig nahm ich da alle Risiken auf mich, um mein Land von der Herrschaft der Schurken zu befreien, die es unterjocht hielten.

 

Während der Morgenstunden prüfte ich nach, über wieviel Munition meine aus 17 Panzerfahrzeugen des Typs EBR bestehende Einheit verfügte. Ich erteilte ferner meinem Adjutanten die Anweisung, Mannschaft, Material und Waffen zu inspizieren. Dabei bemühte ich mich, das Ganze wie eine reine Routineangelegenheit aussehen zu lassen. Bis zum Mittagessen mit Oufkir passierte dann nichts Besonderes mehr.

Als wir um zwei Uhr bei Tische sassen, einigten wir uns darauf, dass ich wie geplant zur Kaserne zurückkehren und mich dort mit meinen Fahrzeugen bereithalten sollte. Der General sollte zum Flugplatz in Sal‚ ungefähr 15 km nördlich von Rabat aufbrechen. Er sollte sich direkt zum Kontrollturm begeben und dort abwarten, bis der Funkkontakt mit der Boeing des Königs hergestellt werden konnte.

Sobald er die Nachricht erhielt, dass die erste Phase der Operation erfolgreich abgeschlossen war, sollte er mich in der Kaserne Moulay Ismail aufsuchen, die gleichfalls dem Panzerstab der Armee unterstand. Dort sollte der Auftakt zum Putsch erfolgen. Sobald Oufkir bei mir eingetroffen war, sollte ich das Kommando über die Kaserne übernehmen und den Befehlshaber der Panzerstreitkräfte, Oberst Hatimi, verhaften, wenn dieser in die Kaserne kam. Seine Festnahme sollte keine Schwierigkeiten aufwerfen.

Es gab noch andere "Freie Offiziere", die von anderen Städten eintreffen würden, um uns zu helfen, und ich würde ihnen mitteilen, wer alles zu verhaften war. Angesichts der Stimmung in der Armee und im Volk rechneten wir damit, dass sich jedermann der Revolte anschliessen würde, sobald irgendjemand den Anfang gemacht hatte. Unser Stützpunkt sollte die auslösende Rolle spielen. War der König erst aus dem Wege geräumt, so war mit keinem ernsthaften Widerstand mehr zu rechnen. Oufkir war ja zumindest auf dem Papier Oberkommandierender sämtlicher Streitkräfte, und er stand auf unserer Seite.

 

Nach einem Jahr als Verteidigungsminister war Oufkir unter jungen Offizieren recht beliebt geworden. Ich sollte die führenden Offiziere in der Kaserne Moulay Ismail festnehmen und anschliessend den Befehl über die anderen 40 Tanks und l'000 Mann sowie 20 "Freien Offiziere" übernehmen, die von anderen Einheiten zu uns stossen sollten. Unserem Plan zufolge sollte Oufkir den Alarmzustand für alle Heereseinheiten einschliesslich den in der Hauptstadt stationierten ausrufen.

Gleich nachdem ich nach dem Mittagessen wieder in die Kaserne zurückgekehrt war, trafen die ersten Anweisungen ein, und ich konnte nun den Befehl zur Ausrüstung der Panzer mit Kampfmunition erteilen, ohne dass dies jemandem auffiel. Um 14'30 Uhr traf der Befehl vom Hauptquartier ein. Ehe Oufkir dieses verliess, um zum Flugplatz hinauszufahren, rief er den Panzerkommandanten Oberst Hatimi an und beorderte ihn zum Flugplatz, wo wir alle führenden Persönlichkeiten und Minister zur Begrüssung des Königs versammeln wollten, um sie dann allesamt zu verhaften, sobald der König selbst in unserer Gewalt war.

Ich plauderte mit einigen Offizieren und scherzte mit ihnen über den Skhirat-Putsch. Alles sollte einen ganz normalen, routinemässigen Eindruck hinterlassen, und doch empfand ich das nagende Gefühl, irgendetwas würde schiefgehen. Ich war nicht besonders glücklich über die Entscheidung, die drei Piloten loszuschicken. Wer konnte denn ausschliessen, dass der König während des Fluges durch Funkkontakt Wind von der ganzen Sache bekommen und dann den Befehl erteilen würde, das Flugzeug solle anderswo landen?

öIch weiss eine bessere Lösung", sagte ich zu Oufkir, während wir beim Mittagsmahle sassen. "Wir lassen den König unbehindert auf dem Flughafen Rabat-Sal‚ landen, den ich dann schon mit meiner Panzereinheit umstellt habe. Dann nehme ich ihn selbst auf dem Flughafen fest, zusammen mit allen Ministern und hohen Offizieren, die auf ihn warten. Wir sperren sie in eine Flugzeughalle ein, bis wir die Lage im Griff haben. Alle können die Verhaftung des Königs miterleben, und dann werden sie begreifen, dass seine Macht gebrochen ist.ö

93 Oufkir lehnte diesen Vorschlag ab. Falls die drei Piloten die Maschine des Königs nicht zum Landen zwingen könnten, würden sie sie eben abschiessen, meinte er. "Es besteht nicht die geringste Gefahr des Scheiterns. Unser Plan ist hundertfünfzigprozentrig sicher", sagte Oufkir. Dies waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte, ehe ich zur Kaserne Moulay Ismail losfuhr. Ich sass in meinem Panzer und wartete ab 15'00 Uhr auf die erwartete Nachricht.

Im Kontrollraum der Luftwaffenbasis von Kenitra stand zur gleichen Stunde der Vizeluftwaffenchef, Oberstleutnant Mohamed Amkrane, dem eine Gruppe von Offizieren unterstellt waren. Vom Kontrollturm aus konnten sie hören, was im Luftraum zwischen Kenitra und dem Mittelmeer ablief. Major Kouera und zwei andere junge Offiziere waren bereits losgeflogen, um die Boeing des Königs bei ihrem Heimflug zu treffen.

 


(INDEX)

 

Ein misslungener Staatsstreich

Am 16. August 1972, etwa um 16 Uhr, fliegt die private Boeing 727 des Königs, ein Zivilflugzeug, das ehemals der marokkanischen Luftfahrtgesellschaft "Royal Air Maroc" (RAM) gehört hat, mit 100 Passagieren - dem Monarchen und seinem Hof - an Bord von Frankreich via Barcelona über die marokkanische Küste nahe der Stadt Tetouan.

Der zivile Pilot, Mohamed Kabbaj, sieht plötzlich drei Jäger des Typs Northrop 15 nahen. Die Maschinen bilden eine Schutzeskorte für das königliche Flugzeug. Hassan II sitzt am Schreibtisch und spielt mit dem französischen Söldner Sassia, seinem Leibwächter, Karten. Via Funk erteilt Major Kouera, der eine der drei Maschinen lenkt, Kabbaj den Befehl, auf dem Militärflugplatz von Kenitra zu landen, aber Kabbaj weigert sich, nachdem er beim König nachgefragt hat.

Plötzlich attackieren die drei Jäger die Boeing mit ihren Maschinengewehren. Der untere Teil der Boeing sowie einer ihrer Motoren werden beschädigt, doch kann sie ihren Flug fortsetzen. Der König steht eilends vom Schreibtisch auf und hastet ins Cockpit zu den Piloten. Er ergreift ein Funkmikrophon.

In einer Mitteilung an die Piloten der angreifenden Flugzeuge gibt er sich als Bordfunker der Boeing aus. "Der König ist schwerverletzt und liegt im Sterben", sagt er und bittet um Erlaubnis, auf dem Flughafen Rabat-Sal‚ landen zu dürfen, um weiteren Schaden und weitere Verluste an Menschenleben zu verhüten.

Später sollte sich herausstellen, dass die Soldaten, welche die Jäger aufmunitionierten, den falschen Munitionstyp gewählt hatten. Anstelle von explosiven Raketen nahmen sie Übungsmunition. Dazu kam, dass Koueras Maschinengewehr eine Ladehemmung hatte. In einem letzten, verzweifelten Versuch, die Boeing zum Landen zu zwingen, bemühte sich Kouera, sie mit seinem eigenen Flugzeug zu rammen, doch es gelang ihm nicht. Sein Jäger wurde dabei schwer beschädigt, und er selbst wurde durch seinen Schleudersitz nach aussen befördert, wonach sich sein Fallschirm "ffnete.

 

Verletzt und mit einem Knochenbruch wurde er in der Nähe von Oulad Khalifa gleich von Polizisten aufgegriffen und in rasender Fahrt als Gefangener nach Rabat geschafft. Die beiden anderen Jagdflugzeuge kehrten auf den Luftwaffenstützpunkt Kenitra zurück, um Kriegsmunition zu laden.

Mit nur einem funktionstüchtigen Motor landete die Maschine des Königs in Rabat-Sal‚. Es war nun 16.10 Uhr. Hassan war sprachlos vor Schreck und völlig verwirrt. Er stieg aus, inspizierte eine Ehrengarde, die auf dem Flugplatz wartete, und zog sich dann ins Hauptgebäude des Flugplatzes zurück, wo er ca. fünf Minuten blieb.

Etwa um 16.40 Uhr tauchten vier Jäger auf und begannen das Flughafengebäude mitsamt den Landebahnen zu beschiessen. Sie flogen eine Angriffswelle nach der anderen. Acht Menschen wurden getötet und weitere 47 verwundet, darunter vier Minister, die zur Empfangsdelegation für den Monarchen gehört hatten. Hassan, sein Bruder Prinz Moulay Abdallah und eine Gruppe Polizisten waren während der Luftangriffe in einen Hain neben dem Flugplatz geflüchtet. Dann machten sich Abdallah und die Polizisten auf den Weg zur französischen Botschaft; der König selbst suchte Zuflucht in der libanesischen.

Währenddessen nahmen acht andere Flugzeuge vom Luftwaffen- stützpunkt Kenitra - dieser unterstand Oberst Amrkane - den Königspalast in Rabat unter Beschuss. Um 16.45 Uhr tauchten acht Jäger im Luftraum von Rabat auf und begannen den Königspalast zu bombardieren. Die beiden Piloten, welche Kouera begleitet hatten und nach dem missglückten Angriff auf die Boeing nach Kenitra zurückgekehrt waren, um scharfe Munition zu laden, erteilten weiteren zehn Flugzeugen den Befehl, ihnen zu folgen, und versuchten die Boeing doch noch abzufangen. Doch diese war längst gelandet. Deswegen versuchten sie nun, den König dort anzugreifen, wo sie ihn vermuteten: auf dem Flughafen oder im Palast.

 

Nach dem Luftangriff auf den Königspalast, und nachdem sie vom Scheitern der Operation erfahren hatten, verliessen Vizeluftwaffenchef Mohamed Amkrane und Leutnant Hassan Midawi, die beide an der Attacke auf Boeing und Palast beteiligt gewesen waren, den Flugplatz Kenitra in einem Hubschrauber, dessen dreiköpfige Besatzung den Befehl erhalten hatte, nach Gibraltar zu fliegen. Die drei Besatzungsmitglieder erklärten dort den britischen Offizieren, die sie in Empfang nahmen, sie hätten mit dem Putschversuch nichts zu schaffen und wollten sofort nach Marokko zurück.

Amkrane und Midawi ersuchten um politisches Asyl in Gross- britannien. Die marokkanische Regierung forderte hingegen ihre unverzügliche Auslieferung. Sie wurden in Gewahrsam gehalten, bis der Gouverneur von Gibraltar, Sir Varyl Begg, nach Rücksprache mit dem Aussenministerium in London, den Beschluss fasste, sie auszuliefern. Der Grund dafür lag darin, dass die Anwesenheit der beiden marokkanischen Offiziere in Gibraltar nach Auffassung der konservativen britischen Regierung "nicht im Interesse der Allgemeinheit lag".

Alle fünf Marokkaner wurden in einem Flugzeug der königlichen Luftwaffe sofort nach Eintreffen des Auslieferungsentscheids am Abend des 17. August zurückgeflogen. Amkrane und Midawi sollten dann ein paar Monate später zusammen mit elf anderen Piloten an die Wand gestellt werden.

Nach seinem Eintreffen in Marokko wurde Amkrane in den Palast zum König gebracht. "Du bist ein wandelnder Leichnam", sagte Hassan. öWusstest du, dass du nur noch l8 Monate zu leben hattest?" "Ich wusste wohl, dass ich wie alle Menschen eines Tages sterben muss, doch mein Todestag war mir nicht bekannt", erwiderte der Offizier. Auf die Frage, wer denn hinter dem Attentat stecke, entgegnete Amkrane, er habe seine Befehle von General Oufkir erhalten.

 

Innenminister Mohamed Benhima sagte einige Tage nach dem Attentat, er und die übrigen Minister, die sich zur Begrüssung des Königs auf dem Flugplatz eingefunden hatten, seien höchst verwundert gewesen, als General Oufkir sie ganz plötzlich verliess und sich in den Kontrollturm begab. Als der König gelandet war, verlangte er, Oufkir solle sich sogleich bei ihm melden, aber dieser war bereits auf dem Weg zu meiner Kaserne Moulay Ismail.

Ich sass in meinem Panzer auf dem Kasernenhof. Es war zwischen 16 und 17 Uhr. Ich hatte eine Maschinenpistole und eine ganze Menge Handgranaten und war grimmig entschlossen, notfalls mit meiner Kompanie tagelang Widerstand zu leisten. Aber was war eigentlich geschehen?

So etwa um halb fünf sah ich plötzlich Oufkir, der zusammen mit einem Hauptmann in einem schwarzen Auto rasend schnell durch das Kasernentor herangefahren kam. Ich hatte keine Ahnung, was sich in den vergangenen Stunden zugetragen hatte. Die Operation, so nahm ich an, war geglückt, und Oufkir kam zu mir, damit wir unseren Plan weiterführen konnten. Als Oufkir ausstieg, hörte ich, wie ihm jemand aus einem Büro in meiner Nähe etwas zurief und ihm mitteilte, der König wolle telefonisch mit ihm sprechen. Ich sah, wie Oufkir nervös in jenes Büro ging, wusste aber natürlich nicht, was er dem König sagte. Zwei Minuten später sprang er hastig ins Auto und verliess das Kasernenareal, ohne auch nur ein Wort mit mir gewechselt zu haben.

Ich begriff nicht, was los war, und konnte nichts tun als abwarten; auf eigene Faust zu handeln, wagte ich nicht, da ein solches Vorgehen alles hätte zerstören können. Rund eine Viertelstunde später erblickte ich acht Flugzeuge, die den Palast mit Raketen attackierten.

Der Königspalast von Rabat gilt in Marokko als Sinnbild der Korruption, Ausbeutung und Unterdrückung. Es war ein grossartiges Erlebnis, mit eigenen Augen sehen zu dürfen, wie die Flieger dieses Symbol der Fäulnis mit ihren Raketen beschossen. Gewiss entsprach dies nicht dem ursprünglichen Plan, doch ich glaubte, Oufkir habe dies spontan entschieden, ohne mich darüber zu unterrichten.

 

Meine Offiziersfreunde, welche sich in der Kaserne aufhielten, kamen zu mir und fragten mich, was das alles zu bedeuten habe. "Sollen wir denn nichts tun, sollen wir bloss hier rumstehen und Maulaffen feilhalten?" fragten sie klagend. Aber ich wollte ihnen nichts verraten.

Später erfuhr ich, was sich ereignet hatte. Als Oufkir im Kontrollturm des Flughafens Rabat-Sal‚ war, erhielt er via Funk Bescheid von der königlichen Maschine, dass Hassan tot sei. Gemäss unserem Plan wollte er nun mich aufsuchen. Ich sollte den Befehl über die Kaserne übernehmen und dann die Radiostation umzingeln. Als nächstes sollte ich unsere Verlautbarung am Radio verlesen, und Oufkir würde seine Anweisungen an alle Heereseinheiten ergehen lassen.

Doch während Oufkir vom Flughafen unterwegs zu meiner 15 Kilometer entfernten Kaserne war, landete die Boeing. Als sie sich über dem Rifgebirge in Nordmarokko befand, hatte sie von Kouera den Befehl bekommen, in Kenitra zu landen. Wie bereits berichtet, gehorchte der Pilot nicht, und Kouera versuchte die königliche Maschine abzuschiessen. Er sagte per Funk zu den beiden anderen Piloten: "Ich opfere mein Leben für mein Land und mein Volk.ö

Ihm war klar geworden, dass beim Aufmunitionieren der Jäger ein verhängnisvoller Fehler unterlaufen war. Wohl hatte er angeordnet, die Flugzeuge mit explosiver Kampfmunition zu bestücken, doch als Kommandant tat er dies nicht selbst. Man kann nur vermuten, dass die gewöhnlichen Soldaten, die den Befehl ausführten, einen Irrtum begangen hatten. Sie waren ja Analphabeten und irrten sich möglicherweise in der Munitionskiste, oder aber sie hatten den Befehl falsch verstanden und meinten, es handle sich um eine Übung wie gewöhnlich.

Kouera pflegte nie zu kontrollieren, ob man seine Anweisungen auch wirklich befolgt hatte, und dies war ein fataler Fehler. Wäre sein Jäger mit explosiven Raketen und scharfer Munition bestückt gewesen, so hätte eine einzige Rakete oder MG-Salve ausgereicht, um die Boeing abzuschiessen.

 

Nachdem er mit seinem Fallschirm abgesprungen war und es den beiden anderen Piloten ebensowenig geglückt war, die königliche Maschine abzuschiessen, da sie ebenfalls die falsche Munition geladen hatten, kehrten diese auf den Luftwaffenstützpunkt zurück. Die Nachricht vom Putsch verbreitete sich dort wie ein Lauffeuer, und andere Piloten liessen die "Islamische Republik" hochleben. Zehn von ihnen stiegen mit ihren Flugzeugen hoch; sie waren es, die ich bei ihrem Angriff auf den Palast erblickte. Es handelte sich also um eine improvisierte Aktion, die mich und ganz gewiss auch Oufkir überraschte und verwirrte.

Während Oufkir wie gesagt unterwegs zu meiner Kaserne war, landete der König. Er und sein Bruder verliessen den Flughafen schon bald darauf. Der Monarch flüchtete sich in die libanesische Botschaft, sein Bruder in die französische. Inzwischen griffen die Jäger den Flughafen und den Palast an, denn man glaubte, Hassan habe dort Zuflucht gesucht.

Als Oufkir in der Kaserne eintraf, klingelte dort eben das Telefon. Am Apparat war der quicklebendige König. Wie in drei Teufels Namen konnte er bloss wissen, dass sich Oufkir dort befand? Ob er es einfach erraten hatte? Meine Verlegung war die grösste und bedeutendste in Rabat. Es mochte ja Zufall sein, dass Oufkir eben eintraf, als der König anrief.

Was mag da in Oufkirs Kopf vorgegangen sein? Niemand weiss es, und es ist müssig, darüber zu spekulieren. Doch jedenfalls muss es ihm klargeworden sein, dass die erste Phase unseres Plans gründlich schiefgegangen war, so dass man nicht einfach zur zweiten übergehen konnte. Ob Oufkir darum kein Wort zu mir sagte, weil er nicht wollte, dass irgendjemand auf mich aufmerksam wurde? Ob er meinte, der König wisse nicht, dass er und ich die Drahtzieher des Putsches waren? Oder wollte er zuerst wissen, wo sich Hassan befand, und ihn als erstes erledigen? So mag es sich verhalten haben. Wie dem auch sei, jedenfalls fuhr Oufkir ins Hauptquartier der Armee, das gleich neben dem Palast liegt.

 

Als die Flugzeuge diesen angriffen, glaubte er möglicherweise, die Attacke gelte auch dem Hauptquartier. Deshalb nahm er zusammen mit anderen Offizieren in dessen Luftschutzkeller Zuflucht. Vielleicht dachte er auch, wir jungen Offiziere führten ohne sein Wissen einen parallelen Putsch durch, weil die Luftangriffe ja ohne seine Zustimmung erfolgten.

Auch ich war, als ich die Jäger den Palast beschiessen sah, glücklich und wütend zugleich, denn einen Augenblick lang stieg in mir der Verdacht auf, Oufkir habe das alles hinter meinem Rücken angeordnet. Wir misstrauten einander, wie schon Ababou und Madbouh 13 Monate zuvor beim Shkirat-Putsch einander misstraut hatten!

Jedenfalls herrschte totale Verwirrung. Ich blieb bei meiner Panzereinheit, um so gut wie möglich in Erfahrung zu bringen, was denn nun eigentlich geschehen war. Etwas Licht ins Dunkel brachte die Meldung, dass Major Kouera in die Hände der Polizei gefallen war. Kouera war verletzt und hatte einen Knochenbruch am Bein davongetragen. Man brachte ihn sofort nach Rabat.

Offiziell war Oufkir immer noch Armeechef; er tat so, als wisse er nicht, wer hinter dem Attentat stand. Aber Kouera wurde im Palast gefoltert und gestand, dass Oufkir der Urheber des Putschversuchs war. Nun tat der König seinerseits so, als sei ihm die Identität des Putschführers unbekannt. Er setzte sich telefonisch mit Oufkir in Verbindung, natürlich ohne diesem mitzuteilen, wo er sich aufhielt, und ohne ihm zu verraten, dass Kouera in seiner Gewalt war und ögesungen" hatte. Hassan befahl Oufkir, die Putschisten zu verhaften.

Inzwischen war es zwischen l8 und 19 Uhr. Die Dinge entwickelten sich nun sehr schnell. Oufkir versuchte, Zeit zu gewinnen, indem er vorgab, auf der Suche nach den Offizieren zu sein, welche den Angriff durchgeführt hatten. Er erfuhr, dass Amkrane zusammen mit den beiden anderen Offizieren, die gemeinsam mit Kouera die Boeing angegriffen hatten, per Hubschrauber nach Gibraltar geflohen waren, und folgerte daraus, Kouera müsse tot sein. Er glaubte wohl - wie zunächst auch ich -, Kouera habe beim Absturz seines Flugzeugs den Tod gefunden.

 

Ca. um 20 Uhr kam der Panzerchef, Oberst Hatimi, vom Palast zu meiner Kaserne. Er rief uns Offiziere zusammen und berichtete, Verräter hätten die königliche Maschine angegriffen, doch ein Teil von ihnen sitze bereits hinter Schloss und Riegel, und die Lage sei unter Kontrolle. Wahrscheinlich beorderte Hassan Oufkir zu diesem Zeitpunkt, sich im Shkirat-Palast einzufinden. Oufkir folgte dieser Anweisung. Warum in aller Welt tat er dies? Wollte er den König selbst umbringen? Oder wollte er sein Spiel weiterspielen?

Es war nun stockdunkel geworden. Ich erteilte meinen Soldaten Befehle. Niemand durfte sich unserer Panzereinheit nähern. Sie sollten niemandem gehorchen ausser mir. Ich versuchte, Oufkir telefonisch zu erreichen, doch er war weder zu Hause noch im Hauptquartier.

Zugleich tat ich mein Bestes, um mich via ausländische Sender zu informieren, wie die Dinge standen. In Marokko stehen Presse, Radio und Fernsehen im Solde der staatlich befohlenen Lüge. Dies ist bekanntlich in allen Diktaturen so. Sämtliche marokkanischen Medien unterstehen dem König. Will man relativ objektive Informationen über die Lage im Land, so hört man ausländische Sender wie BBC oder France Inter. Es kommt heute nicht selten vor, dass mich jemand von Rabat nach Stockholm anruft und fragt, ob in Marokko irgendetwas Neues passiert sei! Doch meistens melden auch ausländische Medien nur das, was ihnen in den "offiziellen" Nachrichten vorgekaut wird.

Um ein Uhr nachts hörte ich auf einem französischen Sender, in Marokko habe ein Putschversuch stattgefunden. Dieser sei, so der Sender, von Luftwaffenoffizieren geführt gewesen. General Oufkir habe Selbstmord begangen. Dies war für mich ein gewaltiger Schock. Ich musste nun raschestens einen Entscheid fällen. Falls er wirklich Hand an sich gelegt hatte und der König nichts von meiner Rolle wusste, konnte ich ja weiterhin in der Armee Dienst tun, dachte ich mir. Das marokkanische Radio berichtete nichts über die Geschehnisse.

Früh morgens verliess ich die Kaserne durch einen nur wenigen bekannten Ausgang an der Hinterseite. Durch ein der Kaserne benachbartes Krankenhaus begab ich mich zu meinem Wagen, der in einer nahen Garage parkiert war, und fuhr zu Oufkirs Wohnung.

 

Wie üblich stand eine Wache beim Eingang. "Ist der General daheim?" fragte ich. Zu meinem Schrecken entgegnete die Wache: "Welcher General?" "Oufkir", vesetzte ich. "Ja, sie haben seine Leiche letzte Nacht gebracht. Sie können rein, um sie sich anzusehen."

Ich betrat das Haus. Die erste Person, die ich erblickte, war Oufkirs Bruder, Moulay Hachem, der natürlich todtraurig war. Auch dem schwarzen Dienstmädchen Coco begegnete ich. Wortlos und weinend folgte sie mir ins "arabische Zimmer", wo Oufkir tot auf einem Bett lag. Er lag auf dem Rücken und war mit einem weissen Laken bedeckt. Als ich dieses hob, sah ich viel Blut. Eines seiner Augen war aus dem Sockel geschossen worden, und zwar, wie ich deutlich erkannte, von hinten. Ein schöner Selbstmord! Die Leiche war von gut 50 Kugeln durchsiebt. Ein solches Kunststück hat noch nie ein Selbstmörder fertiggebracht.

Ich fragte Coco nach der Tasche des Generals. In dieser lag nämlich die Kassette mit unserem Kommuniqu‚ und dem ganzen Text, den ich von Hand niedergeschrieben hatte. Dieses Beweisstück durfte natürlich nicht in falsche Hände geraten. Aber Coco hatte die Tasche nicht gesehen. Ich fragte Oufkirs zwei Leibwachen, was sich zugetragen hatte. Sie erzählten, sie seien zusammen mit ihm zum Palast gefahren, hätten aber draussen warten müssen. Rund eine Stunde später kam General Sefrioui, Führer der schwarzen königlichen Garde, auf sie zu und wies sie an, heimzukehren. Der General komme später, sagte er.

Eine Stunde, nachdem sie in der Villa des Generals in Souissi eingetroffen waren, kam ein Krankenwagen angefahren. In ihm sass unter anderem Hsouni, ein Folterspezialist der Polizei. Er hatte zu den Mördern Ben Barkas gehört. Nun brachte er Oufkirs Leiche.

 
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Die Flucht

Mir war nun klar, dass ich keine Minute zu verlieren hatte. Sie hatten ja die Kassette und wussten alles. Sie war nicht im Auto; ich hatte dort selbst gesucht. Sie befand sich, wie ich sicher wusste in der Tasche des Generals. In meinem Zimmer in der Kaserne gab es einige Geheimpapiere, die andere Offiziere, meine Freunde, kompromittieren konnten.

Aus diesem Grunde fuhr ich zur Kaserne und betrat diese auf dem gleichen Wege, auf dem ich sie verlassen hatte. Gerade als ich im Begriff war, meine Paiere zu verbrennen, kreuzte der Panzerchef auf und teilte mir mit, der Bereitschaftsgrad sei gesenkt worden. Ich solle meine Leute anweisen, ihre Waffen abzugeben, und ihnen dann 48 Stunden Urlaub genehmigen.

Ich sagte meinem Adjutanten, meine Kompanie solle von niemandem Befehle entgegennehmen aussser von mir, und sie sollten auf meine Anweisungen warten. Dann verbrannte ich die Papiere im Waschbecken. Als nächstes erteilte ich meinem Adjutanten den Befehl, die Soldaten zu inspizieren und ihre Waffen einzusammeln. Ich müsse mal auf die Toilette, werde aber gleich zur Inspektion zurück sein. Von der Toilette führte der Ausgang Richtung Krankenhaus. Dort stand ein Wachposten. Ich schnauzte ihn gehörig an und erteilte ihm eine Mohrenwäsche wegen mangelnder Aufmerksamkeit. Er sollte glauben, ich sei auf Inspektionstour.

Sobald ich die Kaserne verlassen hatte, fuhr ich zu meiner französischen Freundin. Ich hatte kein Geld bei mir und musste mir deshalb einen kleinen Betrag von ihr ausleihen. Wir verabschiedeten uns, und dann fuhr ich mit meinem Wagen zu einer Garage ausserhalb der Stadt. Dort tauschte ich meine Uniform gegen Badehosen, Jeans und Pullover. Auch meine Pistole und alle Papiere, die Aufschluss über meine Identität vermittelten, liess ich zurück.

Viel später sollte ich erfahren, dass die Polizei meiner Freundin einen unwillkommenen Besuch abgestattet und dort tagelang bis an die Zähne bewaffnet auf mich gelauert hatte. Sie hofften wohl, ich würde später dort auftauchen. 104 Meine Freundin wurde festgenommen und verhört, doch nach Intervention des französischen Botschafters liess man sie frei. Sie war nicht in meine Pläne eingeweiht gewesen, und die Polizisten mussten sie laufen lassen. Vorderhand durfte sie aber das Land nicht verlassen. Sie glaubte lange Zeit, ich sei tot. Nachdem ich die Garage verlassen hatte, nahm ich ein Taxi und fuhr in ein Slumviertel namens Yakoub-el- Mansour. Dies war die erste Etappe meiner Flucht.

Ich wanderte südwärts dem Strand entlang, weg von der Hauptstadt. Der Strand war voll von gutgelaunten Badegästen. Sie kümmerten sich nicht im mindesten um die Geschehnisse des vergangenen Tages, sondern tollten im Sand herum und kühlten sich in den Wellen. Nur mit Badehosen bekleidet, ging ich immer weiter nach Süden. In der Hand hielt ich meine Jeans und einen Pullover. Das war alles, was ich auf meiner Flucht bei mir hatte. Alles andere liess ich hinter mir zurück: meine Arbeit, meinen Lohn, meine Wohnung, mein Auto und meine grosse Bibliothek, nicht aber meine kühnen Träume von einer menschenwürdigeren Zukunft und einer besseren Welt.

Doch vergass ich ob dieser Träume auch die praktischen Probleme nicht, denen ich mich nun gegenübersah. Den ganzen Tag lang ging ich dem Strand entlang und wich allen grossen Strassen so gut es ging aus. Polizei und Militär hatten bestimmt überall Strassensperren errichtet.

Mein erster Gedanke war, nach Süden in die Sahara zu flüchten. Dort konnte ich vielleicht bei den Beduinen leben, bis sich die Lage entspannt hatte. Ich erinnerte mich an die Beduinen aus der Sahara, die an meinem Heimatdorf vorbeiwanderten. Mein Vater anerbot ihnen, sie dürften die von den in die Städte abgewanderten Dorfbewohnern verlassenen Häuser und Úcker ohne Bezahlung übernehmen. Die Beduinen lehnten dankend ab; ihr einziges Eigentum sei ihre Freiheit, und sie wollten nicht an ein Stück Erde und Beton gefesselt sein.

Ein genaues Ziel hatte ich also nicht. Nie im Leben war ich in einer solchen Situation gewesen, und ich hatte nie damit gerechnet, in eine solche zu geraten. Alles war so unerhört rasch gegangen, und ich hatte keinen Gedanken an die Möglichkeit verschwendet, der Putsch könne scheitern und ich mit dem Leben davonkommen. Sieg oder Tod, das war die Alternative gewesen. 105 Mir war klar, dass ich mein Land vielleicht verlassen musste, und dies erschien mir so aussichtslos wie der Plan einer Reise zum Mond. Ich dachte an die vielen Offiziere, die nach der Skhirat-Revolte ins Ausland flüchten wollten. Sie wurden allesamt festgenommen und hingerichtet.

Es war der 17. August. Ich setzte meine schier endlose Wanderung fort. Zwischen Rabat und Skhirat führt eine der grössten Strassen des Landes auf einer Brücke über einen Fluss unmittelbar nördlich von Skhirat. Ich ahnte, dass die Polizei bei der Brücke Kontrollen durchführte, und beschloss deshalb, den Fluss zwischen Brücke und Mündung zu durchschwimmen. Es gelang mir, obschon ich ein schlechter Schwimmer bin. Schliesslich ging es um Leben und Tod. Bei Skhirat war ich gezwungen, die Küste zu verlassen und den grossen Strassen entlang landeinwärts zu gehen.

Als ich im Begriffe war, die grosse Strasse zwischen Rabat und Casablanca zu überqueren, fiel mein Blick auf einen Mann, der am Strassenrand Trauben feilbot. Ich war sehr hungrig und machte halt, um ein paar Trauben zu kaufen. "Wohin führt denn dieser Weg?" fragte ich und zeigte landeinwärts. "Keine Ahnung; ich bin nicht von hier", erwiderte der Verkäufer. Gerade in diesem Augenblick kam ein Mann auf einem Moped herangefahren, und der Verkäufer meinte, ich solle doch den fragen.

öWas willst du wissen?" fragte der Mopedfahrer. "Ich kenne mich hier nicht aus. Gestern bin ich von Marrakesch nach Rabat gekommen, um einen Freund zu besuchen. Aber er war nicht dort, und darum dachte ich mir, am besten gehe ich nach Marrakesch zurück. Leider hab ich fast kein Geld. Ich fahre per Anhalter oder gehe notfalls zu Fuss.ö öHast du einen Ausweis?" fragte er in hochmütigem Ton. "Nein, den habe ich leider nicht mitgenommen. Ich wusste doch nicht, dass ich ihn brauchen würde."

Der Mann war ein Polizist. Mir wurde himmelangst. Ich bin geliefert, dachte ich mir, versuchte aber, meine Angst so gut wie möglich zu verbergen. "Wo schläfst du denn heute nacht?" bohrte er. "Weiss ich's denn? Vielleicht lädt mich irgendeine gastfreundliche Seele zu sich ein.ö

 

öDu darfst im Knast schlafen", stellte er mir liebenswürdig in Aussicht und blickte mich scharf an. "Ich kann ja wohl irgendwo übernachten", erwiderte ich. "Ich habe wirklich keine Zeit mehr für dich, Bürschchen", sagte er ganz unerwartet. "Du kannst von Glück reden, dass ich Wichtigeres zu tun habe, als mich um Landstreicher wie dich zu kümmern. Wenn du auf dieser Strasse weitergehst, landest du so oder so im Bau. Dort an der Strassensperre nehmen sie solche Vögel wie dich nämlich bestimmt genauer unter die Lupe."

Wie in allen anderen Polizeistaaten verschafft der Polizistenberuf in Marokko hohe Autorität. Die Polizei jagt den Menschen eine Heidenangst ein. Jeder windige Polizist spielt sich als kleiner Despot auf und betrachtet die gewöhnlichen Sterblichen als eine Art Tiere. Der Traubenverkäufer bekam es mit der Angst zu tun und schenkte dem Bullen die Hälfte seiner Früchte.

Ich machte mich eilends aus dem Staub und folgte der Strasse, auf die ich vorher gezeigt hatte. Nach einer Meile überkam mich abermals die Müdigkeit. Ich dachte mir, die Polizei habe sicher wie üblich an den Ein- und Ausfahrten zu den Städten und den grossen Wohnbezirken Wegsperren errichtet. Am besten versuchte ich wohl, per Anhalter weiterzukommen und vor der nächsten grösseren Stadt, Bouznika, auszusteigen.

Ich ging zur Hauptstrasse und stoppte einen Wagen an, der sich als nichtregistriertes "Privattaxi" erwies. Der Chauffeur nannte den Fahr- preis. "Einverstanden", meinte ich, "aber unter der Bedingung, dass du einen Kilometer vor Bouznika anhältst". "Warum denn das?" wollte er wissen. "Weil ich keinen Ausweis bei mir habe", erklärte ich. Etwa einen Kilometer vor der Stadt bat ich ihn, anzuhalten, aber er wollte nicht hören. Ich wiederholte meine Bitte, stiess jedoch auf taube Ohren. Er fuhr bis zu der von der Polizei errichteten Sperre. In der Schlange vor uns warteten vielleicht zehn Autos. Mein Chauffeur reihte sich nicht in die Schlange ein, sondern fuhr an dieser vorbei direkt zu den Polizisten. Deren Chef geriet in Rage und herrschte ihn an: "Mach bloss, dass du wegkommst, du Blödmann, das nächste Mal wartest du gefälligst wie alle anderen." Der Chauffeur liess sich das nicht zweimal sagen. Ich begreife bis heute nicht, warum sie mich nicht kontrolliert haben. 107 Ohne weiteren Kommentar brachte ich ihn dazu, ins Zentrum von Bouznika zu fahren und mich dort abzusetzen. Von dort aus ging ich sofort in Richtung eines Waldes weiter. Meine Sandalen zerfielen, und ich setzte meinen Weg barfuss fort. Meine Füsse schmerzten, aber ich gönnte mir keine Rast. Es wurde so dunkel, dass ich kaum noch die Hand vor den Augen sah, doch ich hörte das Rauschen des Atlantiks, denn ich war nun wieder nahe bei der Küste.

Ich gab mich allerlei Träumereien hin. Könnte ich doch wie ein Vogel wegfliegen! Jenseits des Atlantiks lockte die Freiheit! Wie sollte ich bloss von hier wegkommen? Nur eine unendliche Wasseröde trennte mich von der Freiheit. Noch heute, nach so vielen Jahren, kehrt dieser Traum bisweilen wieder, und ich flüchte vor der marokkanischen Polizei, die mir dicht auf den Fersen ist. Dieses Erlebnis hat dazu geführt, dass ich alle Grenzen zwischen Ländern und Völkern verabscheue, und ich sehne den Tag herbei, wo diese Grenzen der Vergangenheit angehören.

Das ist natürlich noch eine Utopie. Doch viele heute Wirklichkeit gewordene Menschenrechte waren früher Utopien. Als ich lange nach den hier geschilderten Ereignissen einmal vom schwedischen Dalarna nach Norwegen fuhr, ohne irgendwelchen Grenzpolizisten zu begegnen, war ich richtig glücklich. Ich träume von dem Tag, an dem die Grenzen zwischen den islamischen Ländern verschwinden. Europa ist auf diesem Wege bereits weit fortgeschritten. Alle Zivilisationen, Kulturen und Religionen sollten nach mehr Freiheit und weniger Verboten streben. Ich habe mich stets als Weltenbürger betrachtet und befürworte eine internationale Zusammenarbeit gegen jene Machthaber, die ihre Völker knechten. Schliesslich arbeiten die Diktatoren auch über die Grenzen zusammen, um den Freiheitswillen der Völker in Schach zu halten.

Nach dem gescheiterten Skhirat-Putsch lieferte die algerische Polizei zwei Offiziere, denen die Flucht über die algerische Grenze gelungen war, an Marokko aus. Und auch das ach so demokratische England sandte zwei Offiziere, die mit einem Hubschrauber nach Gibraltar geflohen waren, nach Marokko zurück. Sie wurden später füsiliert, weil sie das Verbrechen begangen hatten, für die Freiheit zu kämpfen.

 

Die Hunde bellten im Dunkel der Nacht. Ich war todmüde und legte mich auf dem Strand zur Ruhe. Es war recht kalt, und der Sand war etwas feucht. Trotz des andauernden Hundegebells und des Brausens des Atlantiks schlief ich einige Stunden lang tief. Es war immer noch dunkel, als ich erwachte. Ich grübelte abermals über meine Lage nach. Aus dieser Not kann mich nur Gott retten, dachte ich; ich stand auf, obgleich es immer noch finster war, verrichtete mein Morgengebet und flehte zu Gott um Hilfe.

Schliesslich, so sagte ich mir, hatte ich als Moslem nur meine Pflicht erfüllt, indem ich mich dem "Jihad" anschloss, ist dieser doch die grösste und bedeutendste Pflicht, die der Koran dem Gläubigen auferlegt. Der islamische Kalender beginnt mit einer Flucht, der Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina, wo er Zuflucht vor seinen Widersachern suchte.

Gottes Gesandte Jesus und Mohammed sind immer meine Vorbilder gewesen. Sie führten ihren Kampf gegen das Böse in einer Welt von Feinden, in der die Kräfte der Finsternis die Oberhand hatten und die breite Masse gleichgültig und passiv war. Die Situation in den heutigen öislamischen" Staaten gleicht in mancher Hinsicht der "Jahilia", jener vom Propheten Mohammed bekämpften korrumpierten und dekadenten Gesellschaft, in der die Menschen Götzen anbeteten. Das Wort "Jahilia" bedeutet "Ignoranz" oder "Obskurantismus".

Schon als Kind, später als Student, Lehrer und schliesslich als Offizier hatte ich einen stetigen Kampf geführt. Dessen Ziel bestand nicht darin, Karriere zu machen und auf Kosten der Armen in die oberen Gesellschaftskreise aufzurücken, sondern darin, das System zu verändern - durch den Kampf gegen Tyrannei und Diktatur, für Freiheit und Gerechtigkeit. Ich entdeckte, dass der Ausdruck öGerechtigkeit" in Marokko eine leere Phrase war. Wer ein Gewissen hatte, konnte sich in einer Gesellschaft nicht glücklich fühlen, die von Strolchen, Narren und Galgenvögeln regiert wurde. Die Hunde, die ich im Dunkel bellen hörte, erinnerten mich an jene Hyänen, die mein Land ausplünderten und nun hinter mir her waren.

 

Im Morgengrauen setzte ich meine Flucht nach Süden fort. Ungefähr um zehn Uhr kam ich nach Mohamedia, eine kleine Stadt an der Küste, nicht allzu weit von Casablanca entfernt. Ich sah wie ein Landstreicher aus. Meine Kleider waren feucht und verschmutzt. Ich begab mich ins Stadtzentrum, um eine Djebella (so heisst das marokkanische Nationalgewand) zu kaufen und um in einem schmierigen Fischrestaurant, das ich in einem Slum entdeckte, einen Imbiss zu mir zu nehmen. Die Leute sassen am Tisch dichtgedrängt nebeneinander, und ich hörte nun, dass man vom "Putsch" sprach. Aufgrund des Polizeiterrors sind die Menschen gezwungen, sich zu verstellen, denn sie fürchten und misstrauen einander und wagen es nicht, über "Politik" zu reden.

In meine Djebella gehüllt, die mir das Aussehen eines jungen Bauernburschen auf dem Weg zum Markt verlieh, setzte ich meine Reise nach Casablanca fort. Es war Abend, als ich dort eintraf. Ich dachte an jenen Tag in meiner Kindheit zurück, als ich das erste Mal nach Casablanca kam: ohne die leisteste Ahnung, wo ich wohnen sollte, rechtlos und einer unbekannten Zukunft ins Gesicht blickend.

Ich ging nun zum Strand, um für die erste Nacht ein Zelt zu mieten. In einem Hotel konnte ich unter keinen Umständen übernachten, denn selbst die erbärmlichsten Kaschemmen standen unter Polizeikontrolle, und zudem hatte ich zuwenig Geld. Verwandte oder Freunde aufzusuchen war mich gleichfalls verwehrt, denn das Risiko war einfach zu gross; die Polizei hatte sicher schon herausgefunden, mit wem ich verwandt und bekannt war, und es war damit zu rechnen, dass sie diese Leute schärfstens überwachte. In Marokko will jedermann bei der Polizei und den Machthabern schön Wetter machen, aber Oppositionelle meidet man wie die Pest.

Als ich zum Strand kam, war es bereits recht spät. Die betreffende Stelle heisst Ain Diab. Ich legte mich einfach nahe beim Meer in den Sand. Dort konnte ich jederzeit verhaftet werden. Bis jetzt hatte ich Glück gehabt, aber ich wusste, dass mein Leben an einem verflucht dünnen Faden hing.

 

Einen langfristigen Plan zu entwickeln war sehr schwierig, und zwar vor allem deshalb, weil ich fast mittellos war. Einen Ausweis besass ich auch nicht. Ich musste buchstäblich von Stunde zu Stunde improvisieren. Am nächsten Tag kaufte ich mir eine Perücke, die vier Fünftel meiner Barschaft verschlang. Ich hatte nun nur noch eine minime Summe in der Tasche.

Mit der Perücke auf dem Kopf ging ich dem Strand entlang zu einer Stelle, wo mehrere Felsen beieinanderstehen. Die Stelle liegt südlich von Casablanca und heisst, wie bereits erwähnt, Ain Diab. Tagsüber kann man zu Fuss zu jenen Felsen gelangen, doch in der Nacht steigt das Wasser so, dass sie ein kleines Eiland bilden. Hier würde ich nachts sicher sein, dachte ich. Inmitten der Felsen befand sich das Grab eines öMarabout", eines Heiligen. Man konnte auch Zelte mieten. Dort hatte man bestimmt seine Ruhe vor Polizisten und anderen lästigen Zeitgenossen, versuchte ich mich selbst zu beruhigen.

Der Schlafplatz im Zelt kostete eine sehr bescheidene Summe, nur ein Vierzigstel dessen, was ich für die Perücke bezahlt hatte. Ich schlief sogleich ein, doch wurde ich jäh aus dem Schlaf gerissen - offenbar gingen da einige Leute von Zelt zu Zelt. Ich hörte, wie sie nach Ausweispapieren fragten. Sie hatten eine Taschenlampe. Was sollte ich nun bloss tun? Wenn ich das Zelt verliess, würden sie mich sofort entdecken. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf sie zu warten. Ich nahm mir vor, mich nicht widerstandslos zu ergeben. Ich würde versuchen, einem der Gendarmen die Waffe zu entreissen. Wenn ich ihnen in die Fänge geriet, waren meine Tage gezählt, und mein Tod wurde nach qualvoller Folter erfolgen. Die kriegen mich nicht lebend, schwor ich mir.

Ich hörte, dass sie auf dem Weg zu meinem Zelt waren. Als sie hereintraten, tat ich so, als ob ich schliefe. Sie leuchteten mir mit der Taschenlampe ins Gesicht. Ich hatte die Perücke auf dem Kopf. Wie durch ein Wunder löschten sie die Taschenlampe, schlossen den Zelteingang wieder und gingen zum nächsten Zelt, wo sie wiederum gebieterisch nach Ausweispapieren verlangten. Ich kann mir bis zum heutigen Tage nicht erklären, weswegen sie nicht nach meinen Papieren gefragt haben. Es war Gottes Wille, dachte ich.

 

Am folgenden Tage kehrte ich ins Zentrum von Casablanca zurück. Zuallererst benötigte ich etwas Geld. Ich beabsichtigte einen Kameraden aufzusuchen; er hiess Mesfioui und war UNFP-Mitglied. Zusammen mit einem anderen Militanten, Omar Ben Jelloun, hatten wir derselben Parteisektion im Quartier Derb Ghalef angehört. Mesfioui war schon zur Kolonialzeit ein bekannter Widerstandskämpfer gewesen. Nachdem ich Offizier geworden war, hatte ich die Verbindung mit ihm verloren. Wir hatten uns seither nur ein einziges Mal bei einer Parteiveranstaltung getroffen, und zwar rein zufällig. Da ich ihn nur als Genossen in einer kleinen Parteisektion kannte, nahm ich an, dass die Behörden nichts von unserer Bekanntschaft wussten. Ich erinnerte mich, dass er im Viertel Maarif in Casablanca wohnte, wo ich einst als Kind gearbeitet hatte.

Als ich ihn aufsuchte, trug ich meine Perücke. Ich klingelte. Ein Kind öffnete die Tür. Ich sagte ihm, ich wolle Mesfioui besuchen. "Wer sind Sie?" fragte das Kind. "Mohamed Alaoui", entgegnete ich. Dies war der Name eines bekannten Journalisten der "oppositionellen" Zeitung Al-Moharir. Ich kannte ihn nicht persönlich, wusste aber, dass Mesfioui in Verbindung mit ihm stand und dass sein Name mir nützlich sein konnte.

Mesfioui kannte mich nicht wieder. Er blickte mich verwundert an. Unaufgefordert trat ich ein, nahm die Perücke ab und stellte mich als Ahmed vor. Dann erzählte ich ihm alles. Er war sehr aufgeregt und verängstigt und sagte: "Du willst mich ins Verderben reissen. Du willst mich ihnen ans Messer liefern. Warum kommst du ausgerechnet zu mir?" fragte er erbittert. "Ich brauche deine Hilfe, ein wenig Geld oder einen guten Rat. Kannst du mir sagen, wie ich mich aus dieser Lage retten kann?" sagte ich. Er dachte eine Weile nach und sagte etwas ruhiger, aber immer noch in gereiztem Ton: "OK, kannst du in einer Stunde zurückkommen?" Ich kehrte nie wieder zu ihm zurück.

Einige Monate später erfuhr ich, dass der König ihn als seinen persönlichen Stellvertreter an irgendeinen Kongress in Beirut geschickt hatte. Vermutlich ging er, sobald ich sein Haus verlassen hatte, gleich zur Polizei und verriet mich dort. Meine Intuition hatte mich nicht im Stich gelassen.

 

Nun suchte ich einen anderen Bekannten auf, den ich allerdings nicht sehr oft getroffen hatte. Er war Anwalt, tief religiös und grundanständig. Politisch war er nicht aktiv. Er empfing mich sehr freundlich, hatte aber nur eine kleine Summe - 400 Dirham - bei sich. Ich sollte am folgenden Tag wiederkommen, sagte er, dann könne er mir mehr Geld geben. Ich nahm die 400 Dirham, wollte aber nicht wiederkommen.

Abermals ging ich zum Strand hinunter, aber nicht an die gleiche Stelle wie zuvor. Auch dort wurden Zelte vermietet. Doch der Wächter erklärte mir, man könne sie nur tagsüber mieten, nicht für die Nacht. Ich machte ihm weis, ich sei ein mausarmer Student aus Marrakesch und habe nicht genug Geld für ein Hotel. Darauf meinte er, ich dürfe in seinem eigenen Zelt übernachten, das nahe bei seinem Haus aufgestellt war. Ich willigte sofort ein. Er lud mich auch zum Abendessen ein.

Während wir bei Tisch sassen, trat sein Bruder ein. Ich wurde diesem als Student aus Marrakesch vorgestellt, der hier auf Besuch sei. Die beiden Brüder begannen über den "Putschversuch" zu reden, der zu jener Zeit in aller Munde war. Der Bruder erwies sich als Mitglied der Geheimpolizei. Er erzählte, die Gendarmen seien einem Offizier auf den Fersen, der am Putsch beteiligt gewesen und dann "desertiert" sei. öEs gibt in ganz Marokko keinen Bullen, der nicht nach dem Bürschchen Ausschau hält", lachte er.

Ich mischte mich nicht in ihr Gespräch ein, sondern gab ihnen zu verstehen, dass ich mich nicht für Politik interessiere. Als ich mich erhob, um mich auf den Weg zu meinem Zelt zu machen, anerbot mir der Gastgeber, ich könne ein paar Tage bei ihm wohnen, wenn ich wolle. Platz gebe es genug. Ich nahm das Angebot ohne zu Zögern an. Bei einem Polizisten, oder dem Bruder eines Polizisten, zu wohnen, war der beste Schutz, den ich mir denken konnte. Niemand würde da auf den Gedanken kommen, der geflüchtete Offizier könnte letzten Endes ich sein. Mein Gastgeber war Junggeselle und arbeitete als Kriminalinspektor bei der Sicherheitspolizei.

 

Ich blieb zwei Tage bei ihm. Es galt nur zu verhindern, dass mich jemand erkannte, wenn ich tagsüber draussen in der Stadt war. Ich trug immer noch meine Perücke und liess mir einen Bart wachsen. Nachdem ich mich von dem Polizisten verabschiedet hatte, suchte ich eine Gruppe von Jugendlichen auf, die ein paar Monate zuvor mit mir per Anhalter nach Rabat gefahren waren. Ich wusste, wo sie wohnten, und niemand war über unsere Bekanntschaft unterrichtet.

Es handelte sich um zwei Jungen und drei Mädchen, die während der Sommerferien zusammen wohnten. Abends hatten sie jeweils zahlreiche Besucher. Sie lebten in einer Villa; ihre Eltern waren im Ausland. Alle nannten sich "Maoisten". Das war damals gross in Mode, so wie Jeans und lange Haare. An den Wänden hingen Bilder von Mao Tse Tung und Che Guevara. Was für seltsame Maoisten diese jungen Leute doch waren! Sie nahmen Drogen und haschten fleissig. Die meisten waren verzärtelte Gören, und ihre Eltern hatten Geld wie Heu.

Ich lehnte dankend ab, als sie mir Haschisch anboten. Als ich meine Gebete sprach, verhöhnten sie mich. Sie nannten mich einen öReaktionär". "Religion ist Opium für das Volk", kommentierten sie meine Gebete altklug. Abends führten sie spiritistische Sitzungen durch und vesuchten Gläser mittels Gedankenkraft zu heben. Sie hatten nichts anderes im Kopf als Hokuspokus, Hasch, Schnaps und Wein. Ob ich Mao kenne, wollten sie wissen. "Ja", antwortete ich. "Aber wenn sich der Chinesenmao mit Haschisch abgegeben hätte, wäre ihm seine Revolution nie geglückt."

Ich dachte lange über den geistigen Zustand der marokkanischen Jugend nach. Als sich Mao und Lin Biao in China zerstritten, spalteten sich die Marxisten an der Universität Rabat über Nacht in Maoisten und Linbiaoisten auf. Kam es hingegen in Marokko zum Bruch zwischen Ben Barka und Ben Sedik, war aus China nichts von einem Zwist zwischen Benbarkaisten und Bensedikisten zu hören. Dieses Beispiel zeigt, wie wir in der Dritten Welt von importierten Ideologien abhängen und wie sehr es unseren Linken an Verankerung in unserer eigenen Realität fehlt.

 

Unsere linksgerichteten Jugendlichen waren stolz auf die Revolutionen Maos und Castros, doch sie selbst palaverten nur und gaben sich den Freuden des Haschisch hin. Sie waren ideale Objekte für die ideologische Invasion aus dem Westen. Wenn unsere Universitäten und Schulen solche Jugendlichen hervorbringen, ist es wohl besser, die Universitäten und Schulen zu schliessen und eine radikale kulturelle und ideologische Revolution zu entfesseln.

Ich bin wohlverstanden kein Feind der westlichen Kultur und Zivilisation. Doch ehe wir Muselmanen mit dieser friedlich koexistieren können, müssen wir uns auf unsere eigenen Wurzeln besinnen. Was wir von Westen übernehmen, ist nicht das Positive, sondern das Negative, nämlich Schund und Dekadenz. Wir produzieren nicht, sondern konsumieren lediglich. Wir sind nicht die Akteure der Geschichte, sondern deren Objekte. Weder kulturell noch politisch führen wir eine eigene Existenz.

Noch so viele Mao- und Che-Guevara-Bilder an den Wänden und noch so viele gelehrte Bücher können nichts daran ändern, dass die Aktivitäten unserer Linken nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Sie sassen vor ihren Mao- und Guevara-Porträts und bildeten sich ein, sie seien politisch tätig. Wenn sie diese Sturm-und-Drang-Phase glücklich hinter sich gebracht und sich die Hörner abgestossen haben, treten sie dann als Funktionäre in den Dienst des königlichen Palastes und werden bei den Regimeparteien zu "Volksführern".

Ich blieb drei Tage lang bei ihnen. Sie brachten mir bei, wie man neue Jeans so behandelte, dass sie alt und gebraucht aussahen. Dieses Kunststück erreichte man mit Hilfe von Bleichungsmitteln, Metallbürsten und Wasser. Sie waren steinreich, wollten aber gerne wie arme Schlucker wirken. Sie gehörten zu jenem vielleicht einem Prozent der Jugendlichen, denen alle Ausbildungsmöglichkeiten offenstanden, und bereiteten sich auf ihre Aufgabe als revolutionäre Führer über uns elenden Reaktionäre vor. Auf diese Weise bleibt die Macht nach der "Revolution" bei den gleichen Familien und gesellschaftlichen Schichten.

 

Ich verliess sie, um nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf mich zu ziehen. Doch mein kurzer Aufenhtalt bei ihnen eröffnete mir einen Einblick in die Art und Weise, wie der Marxismus von konservativen Kräften ausgenutzt wird, um die Macht unter anderen Parolen und unter neuer Flagge zu behalten.

Was dann geschah, darf und will ich nicht enthüllen. Ich wohnte an vielen verschiedenen, über das ganze Land verstreuten Orten, und zwar in sehr schweren Verhältnissen. Auch heute gilt es jene zu schützen, die mir damals beigestanden sind, so dass ich keine Einzelheiten verraten darf. Sobald die Umstände es zulassen, werde ich die Ereignisse jener Zeit schriftlich niederlegen.

Bis März 1973 beteiligte ich mich an den Vorbereitungen für verschiedene Guerillaaktionen im Atlasgebirge. Leute vom radikalen Flügel der UNFP hatten sich in kleinen Partisanengruppen zusammen- gefunden, die Überfälle auf die Stützpunkte der Sicherheitskräfte auf dem Lande durchführten. Die erste solche Aktion fand am 3. März 1973 statt, als die Widerstandskämpfer einige Polizeistationen im Mittleren Atlasgebirge angriffen. Das Unternehmen schlug fehl, und 20 Partisanen kamen dabei um. Ich selbst war als ideologischer Berater und Instrukteur in Guerrillataktik tätig. Ich misstraute den UNFP- Führern, weil diese Marxisten waren und leicht von der Polizei infiltriert werden konnten. Für mich war jedes marxistisch-leninistische Regime in Marokko vollkommen unakzeptabel.

Unsere völkische Ideologie, Kultur und Religion ist der Islam. Dieser gewährleistet unsere kulturelle und politische Selbständigkeit. Der Marxismus ist ein Teil der europäischen jüdisch-christlichen Denkweise und Ziviliation. Bei uns führt er nur zu Tragödien, wie etwa die tragischen Beispiele Afghanistans und des Südjemen beweisen. Dort können sich die einheimischen Marxistenregime nur durch ausländische Mililtärhilfe an der Macht halten. Dass die erwähnten Guerrillaaktionen scheiterten, lag daran, dass die bewaffneten Widerstandsgruppierungen von "Marxisten" infiltriert waren, bei denen es sich in Tat und Wahrheit um Polizeispitzel handelte.

 

Ich verbarg mich einige Zeit in den Bergen. Die Lage für mich wurde immer gefährlicher, weil mehrere andere Partisanen in Gefangenschaft geraten waren. Zudem wurden die politischen Gegensätze zwischen meinen Kampfgefährten und mir selbst immer schroffer. Der Marxismus war nicht zu Lenins Zeiten in die arabische Welt eingedrungen, sondern erst sehr viel später, zu einem Zeitpunkt, wo die UdSSR imperialistische Expansionspolitik betrieb. Er hatte also recht eigentlich kolonialen Charakter. Seine Apostel waren Missionaren mit ihren Bibeln vergleichbar.

Die Marxisten analysieren nicht etwa die tatsächlichen Probleme auf wissenschaftliche Weise, um Lösungen dafür zu erarbeiten, sondern sie kommen mit fertigen Lösungen und suchen dann angestrengt nach den dazu passenden Problemen. Im Südjemen, in Oman und in der marokkanischen Sahara wittern sie einen "Klassenkampf", obschon dort nur arme Beduinen leben.

Unsere Marxisten sind dumme Papageien. Es mag ja sein, dass der Marxismus in Europa einen organischen Bestandteil der jüdisch- christlichen Kultur und Philosophie darstellt, doch in der arabischen und ganz allgemein der islamischen Welt bilden die Marxisten lediglich einen Teil der kolonialen Invasionsarmee; sie sind, bildlich gesprochen, Soldaten und Missionare. Ohne sich dessen gewahr zu werden, sind sie Werkzeuge eines kulturellen, intellektuellen und philosophischen Imperialismus.

Ich träumte davon, nach Schweden zu fliehen. Nie gingen mir die Worte des Polizeichefs aus dem Sinn, der mich und andere Lehrer wegfuhr, als wir die Auszahlung unserer Löhne verlangten. "Meine Herren, bilden Sie sich denn eigentlich ein, wir seien hier in Schweden?" hatte er gehöhnt. Seit jenem Tage dachte ich an Schweden; ich hatte einiges über das Land gelesen und wollte nun dorthin flüchten und um politisches Asyl bitten, bis sich die Zeiten besserten. Wenn man mich gefangennahm, würde ich auch meine Freunde mit mir in den Abgrund reissen, die immer noch in der Armee dienten; ich würde sie unter der Folter verraten. Auf Wegen, die ich nicht enthüllen darf, glückte es mir, via Paris nach Schweden zu gelangen.

 
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Das Schicksal General Dlimis

Nach der Flucht aus Marokko teilte ich der Presse unterschiedliche Versionen darüber mit, wie ich das Land verlassen konnte. Dies war ein gezielter Versuch, die Polizei irrezuführen und meine Helfer zu schützen. Unter jenen gab es auch einige hochrangige Offiziere; General Dlimi war beispielsweise einer von ihnen.

Wohl stand ich nicht in direktem Kontakt mit diesem, aber er gehörte zur Bewegung der "Freien Offiziere", meinen alten Freunden, die mit ihm über meine Lage sprachen. Viele Offiziere hatten ja guten Grund, sich vor meiner Verhaftung zu fürchten, und halfen mir nicht zuletzt in eigenem Interesse.

Im Dezember 1982 hielt sich der marokkanische General Ahmed Dlimi unter falscher Identität in Stockholm auf. Wir sprachen über die politischen Strömungen innerhalb des Heeres vor dem geplanten Putsch im Juli 1983. Im Februar des kommenden Jahres wollten wir uns in London wieder treffen; in jenem Monat würde Dlimi in Begleitung des Monarchen dort auf Staatsbesuch sein.

Am 25. Januar 1983 verbreiteten Rundfunk und Fernsehen in Marokko folgendes offizielle Kommuniqu‚: "Verkehrsunfall in Marrakesch. Auf der Fahrt zu seiner Wohnung stiess Dlimi mit einem Lastwagen zusammen und fand den Tod." Hassan fand traurige Worte über Dlimis Hinschied. In Wirklichkeit hatte er ihn umbringen lassen.

General Ahmed Dlimi arbeitete mir den "Freien Offizieren" zusammen, einer Bewegung, die als ersten Schritt der Revolution die Monarchie abschaffen wollte. Träger der Bewegung sind junge Offiziere, die politisch denken können und meist auf eine Vergangenheit als Parteimitglieder zurückblicken können. Als Gymnasiasten hatten wir bei den Krawallen und Revolten der sechziger Jahre unsere ersten Erfahrungen mit der Armee gemacht. In den siebziger Jahren infiltrierten wir diese dann. Dort spielten sich die wichtigsten politischen Kämpfe ab.

 

Dlimi war der Chef des Armeesicherheitsdienstes im Ausland und obendrein Oberkommandant der militärischen Zone Süd, wo die marokkanische Armee gegen die Polisario kämpfte. Er gehörte auch dem königlichen "Militärrat" an. In der Pressepropaganda stand er nur um einige Stufen hinter dem König selbst zurück, und er war der bekannteste Soldat des Regimes.

Wie viele höhere Offiziere hatte sich Dlimi auf ein Doppelspiel eingelassen; er war königstreu und zugleich ein immer heftigerer Widersacher des Gewaltherrschers. In seiner Position konnte er keine persönlichen Direktverbindungen mit den oppositionellen Offizieren pflegen. Aus diesem Grund fungierte ich als Verbindungsglied.

Höchstwahrscheinlich wurde Dlimi überwacht. In Stockholm suchte er lediglich mich auf. Bei einem früheren Besuch in der schwedischen Hauptstadt, die er damals unter seinem eigenen Namen und mit seinem eigenen Pass besuchte, wohnte er u.a. im Grand Hotel. Trotz aller Vorsichtsmassnahmen sind wir vielleicht beschattet worden.

Mitte Januar wurde eine Reihe höherer Offiziere festgenommen. Er ahnte, dass sein Doppelspiel vielleicht schon aufgedeckt war. Dem König wurde ein Dossier über ihn vorgelegt. Vermutlich enthielt dieses auch Aufnahmen, welche unser Zusammentreffen in Stockholm bewiesen. Am 25. Januar wurde Dlimi anlässlich eines Besuchs im Palast mit dem Dossier konfrontiert. Nach Verhör und Folter starb er im königlichen Palast. Der Autounfall wurde später am Abend arrangiert.

Diese Informationen habe ich direkt aus Marokko. Die nächste Umgebung Hassans, wozu auch ausländische Geheimdienstleute gehören, kennen die Umstände von Dlimis Tod sehr wohl. Die Märchengeschichte vom Autounfall wurde aufgetischt, um die Tatsache zu vertuschen, dass es in der Armee und sogar unter den engsten Mitarbeitern Hassans gärt.

 

Der "Le Mondeö-Korrespondent in Rabat äusserte seine Zweifel an der Autounfallgeschichte und wurde flugs des Landes verwiesen. Laut der offiziellen Version wurde Dlimis Auto vom Direktor eines Reisebüros gelenkt. Der Direktor, ein Angehöriger der Geheimpolizei, wurde danach vom König auf eine Pilgerfahrt nach Mekka geschickt und verschwand später spurlos.

Auch der Lastwagen und dessen Fahrer lösten sich in Luft auf. Dlimis Sarg wurde direkt vom Königspalast zu einem besonderen Friedhof geschafft. In Marokko kursieren sogar Gerüchte, die besagen, er sei immer noch am Leben und werde in einem der privaten Verliese Hassans des Zweiten gefangengehalten.

In arabischsprachigen Radioprogrammen, am französischen Fernsehen sowie in "Le Monde" vom 24. Februar 1983 enthüllte ich die Wahrheit über Dlimis "Unfall" und den geplanten Putsch vom Juli 1983.

Nach seinem heimlichen Besuch in Stockholm wollte Dlimi das Putschdatum vorverschieben, weil er den Verdacht hegte, der König plane umfassende Rochaden innerhalb der Armee. Hassan der Zweite ist kein Operettenkönig. Er arbeitet aktiv im Generalstab mit und umgibt sich mit zahlreichen Sicherheitsdiensten: dem der Polizei, der Gendarmerie, der Armee sowie schliesslich dem hofeigenen Geheimdienst. Sie alle arbeiten engstens mit anderen Geheimdiensten zusammen. Marokko ist eine Einmanndiktatur, und der Monarch ist auf allerhöchste Sicherheit erpicht.

Nach Dlimis gewaltsamem Ableben wurden rund 15 Offiziere verhaftet, von denen drei hingerichtet wurden. Die Zensur verhindert, dass das Volk vom Ausmass des Terrors erfährt. Ich hoffe nur, dass meine Enthüllungen trotzdem irgendwie in mein Land gelangen. Früher oder später wird dies nicht mehr zu verhindern sein. Die Wahrheit ist die Waffe der Opposition.

 
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Der König ist nackt !

Bis zu den Putschversuchen von 1971 und 1972 war der König weit mehr als ein gewöhnlicher Sterblicher gewesen. Der König von Marokko, erst Mohamed V, dann Hassan II, war eine Institution, die mit der Geschichte und den Traditionen des Landes verknüpft war. Die Monarchie wirkte für den Normalbürger erhaben und unnahbar, doppelt faszinierend durch den Luxus und Überfluss, mit dem sie sich umgab.

Aber innerhalb einiger Stunden am Nachmittag des 10. Juli 1971 war das Trugbild wie ein Spuk verflogen. Das ganze offizielle Marokko konnte mitansehen, wie sich der Halbgott auf dem Aborte zu verkriechen suchte und diesen mit erhobenen Händen verliess, während ihn ein einfacher Soldat mit seiner Maschinenpistole vor sich hertrieb. Man sah auch, wie sich derselbe König an einer Mauer auf den Boden setzte, klein und unscheinbar inmitten einer aufgewühlten Menge, so dass jene, die ihn zu töten planten und ihn suchten, um seine Exekution zu filmen, ihn nicht wiedererkannten! Welch unaussprechliche Demütigung!

Die Schilderung jener denkwürdigen Ereignisse verbreitete sich in Windeseile über ganz Marokko und hinterliess beim einfachen Volk einen gewaltigen Eindruck. Man konnte also in den Palast eindringen, den König erniedrigen und ihm stundenlang Todesangst einjagen! Einfache Soldaten hatten das fertiggebracht. Wohl überlebte Hassan, doch er stand gewissermassen splitternackt auf der Bühne.

Diese Demontage seines Ruhms nahm ihren Fortgang. Sie begann gleich nach dem gescheiterten Putsch; überall, in allen gesellschaftlichen Kreisen, wurde das Geschehen offen und mit spitzer Zunge kommentiert. Alles, wovon man wusste, aber nicht zu sprechen wagte - Skandale, Korruption, politische Stümpereien - wurde nun unverblümt erörtert. Ganz besonders eingehend sprach man über das Privatleben des Königs, manchmal mitleidsvoll, manchmal hasserfüllt, doch niemals mit Achtung. Für viele war es vorbei mit der Verehrung seiner Person, die zeitweise fast religiöse Züge angenommen hatte.

 

Die Geschehnisse eines einzigen Tages hatten das ganze System radikal in Frage gestellt. Wie sollte dieses noch länger funktionieren? Es fusste auf dem Prinzip eines unfehlbaren Königs, der selbst alles entschied und die Macht persönlich ausübte, wobei er Institutionen wie das Scheinparlament als Fassade vor sich herhielt.

Dieses "Parlament" vertrat keine eigenständigen politischen Kräfte und war im Grunde so überflüssig wie ein Kropf. Die Minister wurden von Hassan ausgewählt, ausgetauscht und abgesetzt, und mit den höheren Staatsbeamten verhielt es sich genau gleich. Hinsichtlich der exekutiven und legislativen Macht gab es grundsätzlich zwei Wege: den normalen administrativen, dr allerdings stets blockiert war, und einen parallelen Weg, der direkt vom König zu seinen "Vollstreckern" führte, die an den formell Verantwortlichen vorbei walteten und schalteten.

Dasselbe galt in hohem Grad auch für das Heer. Dieses hatte seinen Stab, seine Hierarchie und seine Ränge. Neben der klassischen Organisation hatte der König sein eigenes System der direkten Verbindungen zu den einzelnen Militärregionen aufgebaut. Der Stabschef war nur eine Art Marionette. Die wirklichen Befugnisse lagen bei Gerneral Madbouh, der sich beim Putsch als "Cäsarmörder" erweisen sollte.

Wenn es um alltägliche Belange wie den Einkauf von Kartoffeln und Benzin ging, war der Stab zuständig. Ging es aber um Verproviantierung in grossem Massstab, umfassende Manöver oder Waffenkäufe, so wandte man sich über Madbouh direkt an Hassan. Offiziere, die bei ernsthaften Versäumnissen bestraft wurden, erhielten ihre Strafe vom König persönlich.

So funktionierte das System auch auf allen anderen Gebieten. Und das System hing davon ab, dass vom Mann auf dem Thron eine Ausstrahlung, eine Aura ausging, dass er der "Führer der Gläubigen" und zugleich ein moderner, aufgeklärter Herrscher war.

 

Daraus ergaben sich immer wieder verwirrende Situationen. So liess Hassan einmal bei einer Versammlung, an der er nicht selbst teilzunehmen geruhte, zur Eröffnungsfeier eine Rede verlesen. Dabei griff er einen aus dem 16. Jahrhundert stammende Brauch auf. Der delegierte Minister sollte das Blatt mit der Rede zweimal küssen, als sei der König selbst anwesend. Gleichzeitig wurden zwei Kolonnen mit Palastlakaien vor der Rede in den Saal geschickt. Sie verneigten sich und riefen: "Möge Allah den König bewahren." Das ganze erhebende Schauspiel wurde zur Erbauung des Volkes am Fernsehen ausgestrahlt. Vielleicht wunderte sich das Volk doch ein wenig über den Minister, der drei Blätter Papier mit Statistiken abküsste.

Abgesehen von solchen denkwürdigen Anekdoten möchte ich einen kurzen Versuch unternehmen, zu zeigen, wie das System funktionierte. Sein Grundgedanke war eine Rückkehr zu traditionellen, nichtislamischen dekadenten Werten.

Wie bereits früher erwähnt, ist die monarchistische Staatsform nämlich mit dem Islam unvereinbar. Die unislamischen dekadenten Werte wurden ins Regierungssystem eingegliedert, indem man ganz einfach zu dem marokkanischen Feudalsystem "Makhzen" zurückkehrte - dieses existierte schon lange vor der Kolonialzeit und passte zu einer feudalen Stammesgesellschaft - und diesem eine äusserliche neue Form verlieh. Dieses "Makhzenö-System beruhte auf dem Grundsatz, dass die Diener des Sultans - Kaiden, Berberhäuptlinge, Provinz-gouverneure - ihren Lohn "direkt vom Volk" erhielten. Auf eine moderne Gesellschaft übertragen kann dies nur zu Korruption in riesenhaftem Ausmass führen.

Nach der Skhirat-Revolte brachen die Dämme. Ein hässlicher Skandal nach dem anderen flog auf. Wäre es allerdings nur um Skandale gegangen, und mochten sie noch so riesig sein, so hätte man die Wogen noch glätten können. Man hatte einige lautstark orchestrierte Schauprozesse gegen die Verantwortlichen geführt, und alles wäre beim alten geblieben. Das Dramatische lag darin, dass die Korruption wie ein Krebsgeschwür wucherte und das gesamte System infizierte. Eine Hand wusch die andere. Allseits anerkannter Meister im Schmieren war der König selbst. Wie sollte sich das Land da entwickeln? 123 Der ärmste Bauer wusste ganz genau, dass er ein Huhn als Geschenk mitbringen musste, wenn er ein wenig Saatgut leihen wollte. Jeder Arbeiter wusste, dass die "Steuer" für einen Pass 500 Dirham betrug, die man dem zuständigen Bürohengst im Innenministerium diskret auf den Tisch legte. Jeder Marokkaner wusste, dass der König selbst der grösste Produzent von Zitrusfrüchten im Lande war. Jeder, dem eine gewisse Verantwortung oblag, musste einsehen, dass ein Budget "mit tausend Löchern in tausend Taschen" keinen funktionstüchtigen öffentlichen Dienst aufrechterhalten konnte.

Die Korruption führte dazu, dass alles und jedes verfälscht war. Keine offizielle Ziffer war glaubhaft. Kein Mensch wusste, in welchen trüben Kanälen die Staatsgelder versickert waren - nein, man wusste es nur allzugut. Während 14 Millionen Bauern und Arbeiter über 45% des nationalen Einkommens verfügten, teilten sich 800'000 Privilegierte die übrigen 55%. Und die Kluft zwischen arm und reich wuchs beständig.

"Die Skhirat-Ereignisse waren für uns keine Bombe, sondern ein Wecker", sagten manche Marokkaner. "Wir wussten, dass Veränderungen dringend erforderlich waren. Das Problem lag nur darin, dass wir nicht wussten, wie und wann.öAndere Marokkaner vernahmen die Nachricht von den beiden Putschversuchen 1971 und 1972 mit ungläubigem Erstaunen.

 
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Warum das Militär ?

Gewiss schien die Monarchie in Marokko kaum stabiler als die in anderen arabischen Ländern, doch das Überraschende lag darin, dass die Revolutionsversuche von einer Seite kamen, wo man sie eigentlich nicht erwartet hätte. Es war allgemein bekannt, dass Mohamed V und nach ihm Hassan II angelegentlich darauf bedacht waren, die bewaffneten Streitkräfte unter ihrer persönlichen Kontrolle zu behalten. Folglich sorgten sie dafür, dass die Soldaten keinen Grund zum Klagen hatten. Natürlich wurde auch einiges getan, um die Loyalität der Staatsbeamten zu sichern. Wenn von dieser Seite böse Überraschungen für den Thron zu erwarten waren, dann am ehesten von Leuten in untergeordneten und nicht von solchen in führenden Stellungen.

Die Revolutionen in Úgypten, dem Irak und Libyen wurden von Hauptleuten und nicht von Generälen angeführt. Diese jungen Offiziere, welche aus dem einfachen Volk stammten und aufgrund ihrer bescheidenen Besoldung genau wussten, wie das Volk lebte, wurden durch eine mehr oder weniger ausgeprägte islamische Ideologie inspiriert. Welche Ideologie beflügelte nun die Generäle und Obersten, die am 10, Juli 1971 sowie am 16. August 1972 den Versuch zum Sturz des Tyrannenregimes unternahmen? Schliesslich lebten diese hohen Offiziere unter dem herrschenden System in erheblichem Luxus!

Was trieb diese Männer, die ja alles zu einem konfortablen Leben Nötige und noch viel mehr darüber hinaus ihr eigen nannten, die aber tagtäglich einen noch viel überschwänglicheren Luxus mitansehen konnten, zu ihren Taten? Sie wurden mit Ehrenbezeugungen förmlich überhäuft, doch um diese zu erlangen, mussten sie vor den in der Hierarchie über ihnen Stehenden kriechen und sich demütigen. Wurde diese ständige Selbsterniedrigung mit der Zeit zuviel? Wollten sie mehr als nur Reichtum und immer neue Orden, genau wie so viele Offiziere in anderen arabischen Ländern? Die Antwort auf diese Fragen steht vielleicht in den Verhörprotokollen der Verhafteten und später Hingerichteten. Es mag noch eine Weile dauern, bis uns diese Protokolle zugänglich sind.

 

Nochmals: Welches waren die Motive der Putschführer und ihrer Helfer? Unter letzteren verstehe ich jene, die zwar nicht aktiv am Putsch beteiligt waren, aber auch nichts unternahmen, um ihn zu vereiteln, und einfach Gewehr bei Fuss abwarteten, wodurch sie sich objektiv auf die Seite der Putschisten stellten. Nur dank diesen stillen Helfern konnte eine Kolonne von 1400 Soldaten den langen Weg von Ahermoumou über Fes, Meknes und Rabat nach Skhirat zurücklegen, ohne dass der König auch nur das Allergeringste davon erfuhr.

Hinsichtlich der am Skhiratputsch beteiligten Soldaten wartete Hassan mit zwei einander widersprechenden Erklärungen auf. Einerseits behauptete er, sie seien unter Drogeneinfluss gestanden, andererseits sagte er, ihre Führer hätten den Soldaten weisgemacht, der König werde von einer Rebellion bedroht, und ihre Aufgabe sei es, ihn zu befreien und zu schützen.

Dass die Soldaten unter Drogeneinfluss standen, ist reichlich unglaubwürdig. Wer Drogen genommen hat, erkennt vielleicht eine drohende Gefahr nicht, kann aber schwerlich dazu veranlasst werden, entgegen seinen tiefsten Überzeugungen zu handeln. Die Zeugen, welche die Drogenthese vertraten, mögen in guten Treuen so ausgesagt haben. Doch ihre Aussagen basieren ja nur auf dem Eindruck, den die rebellierenden Soldaten auf sie hinterliessen; diese wirkten unnatürlich aufgeregt.

Man bedenke jedoch, dass starke Emotionen (Gewaltbereitschaft, Hass oder Schmerz) leicht zu einem Verhalten führen können, das dem durch Narkotika bewirkten gleicht. Wer die hysterischen Ausbrüche der Menschen bei Nassers Begräbnis miterlebt hat, konnte leicht dem Irrglauben verfallen, diese Menschen seien auch unter Drogen gestanden.

Noch unglaubwürdiger wirkt die zweite Theorie. Dieser zufolge glaubten die jungen Soldaten, die im Königspalast anwesenden Leute seien Verschwörer gegen den Monarchen. Doch waren die Gäste allesamt hohe Staatsbeamte, die Champagnergläser und Teller mit geräuchertem Lachs in den Händen hielten.

 

Es mag ja sein, dass ein paar der an der Revolte beteiligten Soldaten arglistig hinters Licht geführt worden waren, aber dies galt ganz gewiss nicht für jene, welche sich zur Rundfunkstation begaben, um dort die Republik auszurufen. Was diese Männer zu ihrem Vorgehen bewog, wäre interessant zu erfahren. Bei einem solchen Putsch sucht man die Drahtzieher natürlich zuerst bei der politischen Opposition. In diesem Fall verhielt es sich aber keinesfalls so, und Hassan gab ohne Umschweife zu, dass die Opposition mit den Putschvorbereitungen nicht das Geringste zu schaffen hatte, auch wenn er andeutete, es bestehe eine indirekte Verbindung zwischen der Kritik an seiner Regierung und dem Putschversuch.

Bekanntlich steht die Istiqlalpartei immer noch hinter dem monarchistischen System. Schwieriger ist der Standpunkt der marxistischen UNFP zu definieren. Diese ist offiziell natürlich für die Monarchie (sonst könnte sie ja nicht legal existieren), doch unter den Parteimitgliedern herrscht die Überzeugung vor, dass die Monarchie der sicherste Schutz für eben jene feudalen Machthaber ist, die man entmachten will und zudem den grössten Stolperstein auf dem Weg zum angestrebten "sozialistischen" System darstellt. Dieses ist nach Auffassung der Partei die einzige Lösung für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes. Die anderen "legalen" Parteien sind lediglich Marionetten, die so tanzen, wie es dem König behagt; als Opposition von Hassans Gnaden spielen sie die Rolle von Hofnarren.

Diese schlecht organisierte, schwache, grossenteils ganz unglaub- würdige Opposition macht nur einen Bruchteil der wirklichen Regimegegner aus. Wer Kontakte zur Schuljugend und den Studenten pflegt, kann unmöglich im unklaren darüber denkt, was die junge Generation in ihrer grossen Mehrheit nicht nur über das Regierungssystem, sondern auch über den König selbst denkt. Doch was wollen die Jugendliche an die Stelle des alten Systems setzen? Hier ergibt sich natürlich kein einheitliches Bild. Manche sehen die Lösung im Islam, andere hoffen auf einen "arabischen Sozialismus". Doch alle sehen sie besorgt in die Zukunft, und alle verspüren sie den schmerzlichen Kontrast zwischen dem herausfordernden Luxus der dünnen Oberschicht und der bitteren Armut der breiten Massen.

 

Die Kadetten, die hinter dem Putschversuch vom Juli 1971 standen, und die Rebellen des August 1972 scheinen keine klar erkennbare ideologische Grundlage gehabt zu haben. Ihre Sprecher hatten kein deutlich umrissenes Programm. Auch wenn sie sich des Begriffs öSozialismus" bedienten, so handelte es sich dabei weitgehend um eine Worthülse - hatte sich nicht auch die Regierungspartei im ersten monarchistischen "Parlament" des Landes als "demokratisch- sozialistische Partei" bezeichnet? Doch ohne starke Überzeugungen setzt man nicht sein Leben aufs Spiel, wie es diese jungen Rebellen getan hatten.

Die Volksideologie, die so gut wie alle Marokkaner teilen, der Islam nämlich, ist von Natur aus revolutionär und führt dazu, dass der Begriff der Revolution in Marokko gefühlsmässig als positiv enmpfunden wird. Der Islam fordert die Gläubigen dazu auf, sich dem Unrecht mit allen Mitteln zu widersetzen.

In einem der Augenzeugenberichte über die dramatischen Geschehnisse des 10. Juli 1971 taucht ein frappierendes Detail auf. Die Soldaten, welche den Gästen des Königs einen unerwarteten und unwillkommenen Besuch abstatteten, nahmen überhaupt kein Geld an sich, sondern packten die Luxusgegenstände, die sie vorfanden, Schmuck etwa und goldene Feuerzeuge, warfen sie auf den Boden und trampelten wütend darauf herum. Diese kleine, aber bezeichnende Episode muss man im Licht eines anderen, unvergleichlich grössere Dimensionen aufweisenden Phänomens betrachten, das wegen seiner Bedeutung Anlass zu Gesprächsstoff überall in der Welt, in Alger, Tunis, Paris und auch in Washington gibt.

Man kann in Marokko keinen Tag verbringen, ohne mehrfach auf dieses Phänomen zu stossen, da sowohl Einheimische wie Ausländer es sogleich aufs Tapet bringen: die Korruption. Die Macht des Bakschisch verbreitet sich überall in der Gesellschaft, und die herrschende Unterwntwicklung bietet dafür natürlich einen idealen Nährboden. In einem armen Land war Macht schon immer für viele der sicherste Weg zum Reichtum.

 

Auf diesem Gebiet scheint Marokko nun wirklich alle Rekorde zu schlagen. Vielleicht mag es nicht den Weltrekord halten, doch jedenfalls gehört ihm unbestrittenermassen der nordafrikanische und wohl auch arabische Rekord. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1971 flog ein Riesenskandal nach dem anderen auf. Diese scheinen auch den USA, die ja konservative Diktaturen allgemein unterstützen, ein Dorn im Auge gewesen zu sein, denn die US-Regierung äusserte den Wunsch nach Verschiebung eines offiziellen Staatsbesuchs, den Nixon Marokko abstatten wollte. Den unmittelbaren Anstoss dazu bot ein Korruptionsskandal, in den hochgestellte Marokkaner verwickelt waren. Diese waren derart einflussreich und dazu zahlreich, dass die Affäre vertuscht wurde. Alle Spuren führten zum König, seiner Familie und seiner Umgebung.

Hassan II sagte, Madbouh sei "ein Privilegierter unter den Privilegierten". Doch wer hatte ihm diese Position denn verschafft, und nicht nur ihm, sondern auch allen anderen Anführern der Aufstandsversuche von 1971 und 1972? Keiner, der die Zustände in meinem Land kennt, ist im Unwissenden darüber, dass die ganze Privilegien- und Vetternwirtschaft auf der Zustimmung des Monarchen beruht. Man erhält - trotz gewisser spektakulärer Massnahmen gegen ein paar besonders korrumpierte Individuen - den Eindruck, es handle sich hier um eine Regierungsstrategie, die darauf abzielt, die führende Schicht ans Regime zu fesseln und jene Schlüsselpersonen - vor allem junge - zu neutralisieren, welche sich sonst leicht mit der Opposition verbinden könnten.

Gar manche blitzgescheite marokkanische Student, der während seiner Studienjahre in Paris oder Stockholm feuerspeiender Maoist oder Trotzkist war, war nach seiner Rückkehr einer wohlbezahlten Stelle als hoher Beamter mit Villa in Souissi (dem Vornehmenviertel von Rabat) und Bankkonto in der Schweiz ganz und gar nicht abgeneigt. Dies ist eine Tatsache, an der es nichts zu rütteln gibt. Und wie sollten den hochgestellte Gewerkschaftsfunktionäre, die "Führer der Arbeiterklasse", eine Revolution entfachen können, wenn sie selbst in Autos herumfahren, die sie vom Hofe geschenkt bekommen haben? Auch daran gibt es nichts zu rütteln.

 

Gehen wir zu einigen anderen Eigenheiten des Systems über. Prominente Marokko-Experten, die vor den Rebellionen von 1971 und 1972 von mir vernommen hatten, dass ich nicht an die langfristigen Erfolgsaussichten des System glaubte, erwiderten, diese Politik habe schliesslich jahrhundertelang funktioniert; auch künftig würden die Marokkaner eben Macht mit Reichtum gleichsetzen, und jene, die Emöprung über die Korruption äusserten, würden keine Sekunde zögern, selbst ihre Schäfchen ins trockene zu bringen, sobald sich ihnen die Gelegenheit dazu bot. Auf dieser Überzeugung basiert auch Hassans ganze politische Strategie.

Vom historischen Standpunkt aus ist diese Argumentation mit ernsthaften Mängeln behaftet. Zunächst übersieht man da die tiefverwurzelten islamischen Traditionen, welche die Abkehr vom irdischen Luxus lehren; immer und immer wieder sind im Lauf der Geschichte islamische Reformatoren aufgestanden und haben gegen die Reichen und die Mächtigen - bei diesen handelte es sich um die gleichen Leute! - gepredigt. Oft ist es ihnen gelungen, die darbenden Massen zu einem revolutionären Kreuzzug mitzureissen.

In der muselmanischen Geschichte fehlt es nicht an Eiferern vom Schlage Savanarolas. Diese Reformatoren und Bussprediger wurden immer zahlreicher, weil ihre Arbeit stets wieder von vorne begonnen werden musste: die neuen Herren erlagen den gleichen Versuchungen wie ihre Vorgänger. In Marokko kamen diese Reformatoren (die Almoraviden und Almohaden sowie im 20. Jahrhundert El-Hilba und andere) meist aus den dürren und armen Saharagebieten des südlichen Landesteils. Heutzutage findet man diese Männer aus dem Süden - Araber und Berber, die Rasse spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle - an den Toren der Städte, wo sie ihre Zelte aufgeschlagen haben. Sie machen ein Drittel der Slumbevölkerung am Rande der grossen Städte aus.

Die Verkennung des dem Islam innewohnenden revolutionären Impulses ist also der erste Fehler, den die "Marokko-Spezialisten" sowie König Hassan begehen. Der zweite liegt darin, dass sie die bahbrechenden Veränderungen nicht berücksichtigen, die sich in unseren Tagen in Marokko abspielen.

 

Es gibt keine "chinesische Mauer" mehr, welche die alten Diktaturen schützt. Die wunderbare Märchengeschichte vom armen Schlucker, der es bis zum Sultan brachte, war in früheren Zeiten in der Vorstellung der Allgemeinheit der einzige Weg zur Überwindung der Armut. Heute weiss man selbst in der elendesten Bruchbaracke in den Slums, dass es andere Möglichkeiten gibt und dass andere Völker uns den Weg gewiesen haben.

Früher hiess es von einem Reichen, er verdanke seinen Reichtum Gott. Heute spricht man ganz anders über die Geldsäcke; man nimmt kein Blatt mehr vor den Mund und schimpft sie Diebe. Wie könnten denn arme Studenten etwas anderes als Hass auf jene empfinden, die in unrechtmässig erworbenem Luxus schwelgen, wenn sie selbst weder begründete Aussichten auf eine Staatsbeamtenstelle haben (70% der Staatsangestellten sind unter 40!) noch sich grosse Hoffnungen auf eine Anstellung im privaten Sektor machen können (auch in den wirtschaftlich guten Jahren wurden jährlich bloss 100'000 bis l10'000 neue Arbeitsplätze geschaffen; dabei hätten es doppelt so viele sein müssen, nur um mit der raschen Bevölkerungszunahme Schritt zu halten).

Im März 1965 rebellierten in Casablanca die Slumbewohner gegen die Unterdrückung. Einem Augenzeugen zufolge wurde der Aufruhr dermassen brutal niedergeschlagen, dass sich die Bevölkerung der Ansicht jenes Zeugen nach "lange, lange nicht mehr erheben würden". Die Arbeitslosigkeit unter Universitätsabsolventen und die Rebellion der Gebildeten stellen eine weitere, weniger leicht zu erkennende, aber doch an Explosivität zunehmende Gefahr für das Regime dar. Aus diesem Grund nehmen die meisten Revolutionen in der Dritten Welt nicht in den Vorstädten ihren Anfang wie im Europa des letzten Jahrhunderts, sondern in den Kasernen.

An den unzusammenhängend anmutenden Ereignissen an jenem dramatischen 10. Juli fiel noch etwas auf: jene Gewalttätigkeit gegenüber Ausländern, die für Marokko völlig untypisch ist, denn der Marokkaner ist, was man ihm auch sonst vorwerfen mag, ungewöhnlich gastfreundlich.

 

Wenn es in früheren Jahren zu Gewaltausbrüchen gegen Fremde gekommen war - z.B. 1907, 1912, und 1953-1955 - dann im Rahmen des Unabhängigkeitskampfes. Wurden nun in Skhirat ausländische Gäste - Botschafter, Úrzte, Geschäftsleute usw. - attackiert und, wie es in einigen Fällen vorkam, mit Maschinenpistolen niedergemäht, so lässt sich dies natürlich nicht entschuldigen, aber doch mit den starken Gefühlen der Putschisten erklären.

Um diese Dinge begreifen zu können, müssen wir uns den Hintergründen etwas näher zuwenden. Politische Unabhängigkeit zieht keinesfalls automatisch wirtschaftliche Unabhängigkeit nach sich, namentlich wenn der moderne Industriesektor, der den Schlüssel zur Entwicklung eines Landes bildet, immer noch in den Händen der ehemaligen Kolonialmacht liegt, welche diese Industrie geschaffen hat.

In den "sozialistischen Ländern" wurde das Problem durch Verstaat- lichungen "gelöst". In Marokko, das sich für den "liberalen" Weg entschieden hatte, hätte eine auf echte "konomische Selbständigkeit abzielende Politik gebieterisch erheischt, dass das einheimische Bürgertum den Besitz der fremden Kapitalisten übernahm. Doch Tatsache ist, dass unsere Bourgeoisie dies entweder nicht wollte oder nicht konnte. Die nicht sonderlich zahlreichen Grosskaufleute aus Fes (öFassi" genannt) entwickelten sich keinesfalls zu modernen kapitalistischen Unternehmern, wie es ihren europäischen Vorgängern im 19. Jahrhundert allgemein geglückt war. Langfristig geplanten Investitionen im Industriesektor zogen sie kurzfristige Projekte und Spekulationen vor. Oder aber sie entschieden sich für "sichere" Investitionen in Land, Immobilien, Gold und Schmuck.

Somit konnte das ausländische Kapital die Industrialisierung mit all ihren Risiken und Gewinnen selbst in die Hand nehmen. Als Folge musste der "liberale" Staat selbst notgedrungenermassen mit eigenem Kapital neue Industrieprojekte finanzieren, die sonst ausschliesslich von fremden Kapitalisten übernommen worden wären. Als man die BNDI (Banque Nationale der D‚veloppement Industriel) schuf, die, wie aus ihrem Namen hervorgeht, mit der Förderung der industriellen Entwicklung beauftragt ist, wurde das erforderliche Kapital vom Staat sowie von ausländischen Financiers zur Verfügung gestellt.

 

10% der Aktion sollten nach Plan einheimischen Kapitalisten angeboten werden. Doch diese zeigten dermassen geringes Interesse, dass die ausländischen Financiers auch diese 10% übernehmen mussten.

Die "Marokkanisierung" des Dienstsektors (oder Tertiärsektors) entspricht voll und ganz den Wünschen des einheimischen Bürgertums. Während der Staat und die ausländischen Interessenten für die Industrialisierung besorgt sind, entwicklet sich der Dienstsektor im Windschatten der Industrie und heimst fette Gewinne ein (in der Reklamebranche kann man leichter und schneller zu Geld kommen als beispielsweise in der Gusseisenindustrie).

Die Angestellten machen beim Tanz um das goldene Kalb auch eifrig mit. Viele von ihnen kamen aus bürgerlichen Familien oder hatten sich in solche eingeheiratet. Andere kapierten, dass ein Hochschulabschluss sich als "Sesam "ffne dich" zur staatlichen Schatzkammer entpuppen konnte. Im Frankreich des Bürgerkönigs Louis Philippe waren die Bürger von Natur aus sehr sparsam und vermieden es sorgsam, ihren Besitz zur Schau zu stellen. Hingegen äussert sich bei den marokkanischen Neureichen der den Beduinen eigene Hang zur Prahlerei - alles oder nichts - sehr deutlich. In manchen Kreisen der Hauptstadt Rabat schämt man sich, Besucher zu empfangen, wenn man nicht wenigstens mit einem Swimmingpool im Garten seiner Villa prunken kann.

Wer nun vom "Königsfest" ausgeschlossen blieb, konnte wohl Neidgefühle gegen die dort eingeladenen, von unerhörtem Luxus umgebenen Gäste nur schwer unterdrücken. Es musste für ihn ausgesprochen schwierig sein, keinen Groll gegen all jene zu empfinden, mochten sie nun Einheimische oder Ausländer sein, die in einem nicht nur für die breiten Massen, sondern auch für das Kleinbürgertum ganz unerreichbaren Komfort lebten. Wer über eine gewisse Ausbildung verfügte und intelligent genug war, um nach den Ursachen der herrschenden Umstände zu suchen, kam zwangsläufig zum Schluss, dass die im Dienstsektor zu Reichtum gelangten Marokkaner ihr Geld damit gescheffelt hatten, dass sie die ausländischen Kapitalisten, welche den Industriesektor verwalteten, als Lakaien bedienten. 133 Diese These wird in linksgewirkten marokkanischen Zeitschriften oft vertreten. Deren intellektuell geschulte Redakteure haben ihren Marx gründlich gelesen und geisseln das Bürgertum, den Stützpfeiler des Regimes, als willfähriges Werkzeug des "westlichen Kapitalismus". Doch seinen Gepflogenheiten getreu kauft sich das Regime die Loyalität dieser Intellektuellen, und zwar für ein Linsengericht.

Die Kadetten in Ahermoumou hatten Marx nicht gelesen, und auch progressive Zeitschriften gehörten nicht zu ihrer Bettlektüre. Doch wussten sie, dass das Bürgertum und die Nutzniesser der Korruption ihre Gewinne ausser Landes geschafft hatten, wo sie in den Safes westlicher Banken ruhten. Sie hatten noch keine scharf umrissene Ideologie, sondern empfanden lediglich dumpfe Empörung und moralischen Zorn. Zusammen mit der aus dem Islam geschöpften Inspiration erwiesen sich diese Gefühle als hinreichend, um das Regime an den Rand des Abgrunds zu führen und so seine Verletzlichkeit offenzulegen.

Ein in Marokko ansässiger Franzose berichtete, er sei gerade bei einheimischen Freunden gewesen, als sich die Kunde vom Skhirat- Putsch verbreitete. Jede Stunde trafen neue Nachrichten ein. Zuerst griff allgemeine Freude um sich, dann Verlegenheit, als sich jedermann beeilte, seine Loyalität dem König gegenüber zu beteuern.

Mit einem Regime geht es unweigerlich abwärts, wenn es den psycho- sozialen Zügen seines Volkes nicht mehr Rechnung zu tragen vermag. Dies gilt keinesfalls nur für Monarchien, sondern auch für manche Republiken. Im 20, Jahrhundert lässt sich ein Land einfach nicht mehr so steuern wie in früheren Zeiten, mögen diese in der Tradition noch so lebendig sein. Ein marokkanischer "Royalist" äusserte sich zu Hassan II wie folgt: "Er will ein aufgeklärter, moderner Monarch sein und gleichzeitig das Land auf die selbe Art regieren wir Moulay Ismail (Sultan von 1672 bis 1727). Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit."

Die marokkanische "Regierung" besteht nicht aus Ministern im heutigen Sinne, sondern aus Sklaven eines Herrschers von Gottes Gnaden, dessen Wille Gesetz ist. Absolute persönliche Macht führt natürlich seit jeher zu grossen Gefahren und Nachteilen.

 

Ob sie in unserer heutigen, immer komplizierter werdenden Welt überhaupt noch möglich ist, wage ich zu bezweifeln. Wer alleine herrscht, ist dazu verdammt, immer einsamer zu werden, bis er schliesslich zum hilflosen Gefangenen seiner eigenen Eisamkeit wird. öEr hört niemandem mehr zu. Man darf ihm die Wahrheit nicht mehr sagen." So klagte einer der engsten Berater Hassans, und solche Worte hört man in den Gängen des Königspalastes immer wieder - natürlich nur in gedämpftem Ton. Aber was soll man noch tun, wenn Korruption zur Regierungs- und Staatsform geworden ist?

Manche Führer kompensieren die Einsamkeit der absoluten Macht durch ihre charismatische Ausstrahlung, welche sie auf gewissermassen magische Art mit den breiten Massen verbindet. Wenn es den französischen Königen an Genialität fehlte, konnten sie diese durch die Salbung zum Monarchen von Gottes Gnaden wettmachen. Die öalawitischen" Sultane konnten sich auf "Baraka", d.h. den göttlichen Segen, berufen. Doch solcherlei Dinge wirken heute immer weniger. Gibt es im heutigen Marokko noch eine Verbindung zwischen dem König und seinem Volk? Kaum. Deshalb betrachten immer mehr Bürger das Regime als illegitim.

Wer die Ereignisse vom 10. Juli 1971 sowie vom 16. August 1972 von nahe verfolgte, den musste die fast totale Passivität der Bevölkerung frappieren. Keine Menschenmassen strömten sich zusammen, um für oder gegen den König zu demonstrieren. Es machte den Eindruck, als spiele sich all das in einer fremden Welt ab, unendlich fern von den gewöhnlichen Sterblichen, die weder Lust noch überhaupt die Möglichkeit hatten, dabei mitzuwirken.

Wohl stimmt es, dass das Tempo, mit dem sich die Geschehnisse überstürzten, dem Volk kaum Zeit zum Reagieren liess. Doch die Erleichterung darüber, dass der König mit heiler Haut davongekommen und dass der Putsch gescheitert war, hätte bei den königstreuen Schichten der Bevölkerung eigentlich zu Freude-ausbrüchen führen müssen. Solche blieben indes gänzlich aus.

 

Das Fehlen jedweder spontanen Reaktionen stellt einen weiteren Beweis für die furchtbare Einsamkeit dar, in dem die Inhaber der absoluten Macht in Wirklichkeit leben. Viel leichter als Freude über das Misslingen des Putsches liess sich noch Enttäuschung darüber erkennen.

Noch ein weiterer Aspekt des Putschversuchs verdient Beachtung, auch wenn er sich nicht so leicht deuten lässt. Es ist dies die überproportionale Rolle, welche die Berber dabei gespielt haben. Dass die bewaffneten Streitkräfte des Königs sich zum grossen Teil aus Berbern zusammensetzen, ist allgemein bekannt. Berber finden sich nicht bloss in unteren, sondern auch in führenden Positionen. Die meisten Generäle, die am 13. Juli 1971 an die Wand gestellt wurden, waren Berber. Dafür gibt es plausible Erklärungen: die Begeisterung für das Waffenhandwerk und für Kriegerruhm ist bei der an ein hartes Dasein gewohnten Bergbevölkerung seit jeher besonders stark gewesen, und die meisten Bergbewohner gehören Berberstämmen an.

Allerdings wäre es ganz irreführend, die Rebellion als Aufstand der Berber gegen die Araber zu deuten. Hingegen trifft es zu, dass sich Hassan derselben Strategie bediente wie weiland die Kolonialherren: er wollte sich auf die Berber stützen, die er als zuverlässiger betrachtete, da sie mehr an ihren Traditionen hingen und weniger von den Segnungen der Moderne beleckt waren. Der Mythos vom "edlen Wilden", in diesem Fall dem "guten Berber", ist zählebig. Wer auf die Berber baut, um eine rückständige Gesellschaftsform zu verteidigen, riskiert allerdings eine böse Ernüchterung. Sicher sind die Berber treu, aber sie lieben auch ihre Freiheit und legen grössten Wert auf Gerechtigkeit. Für sie ist Hassan ein gottloser Mensch.

Die Berber sind sich selten in ihrer Geschichte einig gewesen. Sie sind in zahlreiche Stämme und Klans aufgesplittert, die sich bisweilen bekämpfen. Die in Skhirat gefallenen Adjutanten des Königs waren auch grösstenteils Berber. Madbouh und die obersten Anführer der Revolte waren Berber, und zwar solche aus dem Rifgebiet. Dort erhob sich das Volk im Jahre 1958. Der Aufstand wurde von den königlichen Streitkräften, die unter dem Kommando des Prinzen Moulay Hassan standen, mit unerbittlicher Brutalität niedergeschlagen.

 

Ob die schmerzhafte Erinnerung an jenes Blutbad bei den Führern der Rebellion mitgewirkt hat? Ich weiss es nicht. Hingegen lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die selbstbewussten Bergstämme ihre Generäle, auf die sie so stolz waren und ihre Hoffnung setzten, gewiss nicht vergessen werden. Sie werden nicht vergessen, wie ihre von Kugeln durchsiebten Leichen vom Pöbel geschändet wurden. Die Rache ist ein Berbergericht, das kalt genossen werden muss! lautet ein französisches Sprichwort.

Bei ihrer Erhebung anno 1958 skandierten die Menschen im Rifgebiet: öWir haben genug davon, von den Leuten aus Fes beherrscht zu werden." Hier ist zu erwähnen, dass es sich bei den Kapitalisten aus Fes teilweise um zum Islam übergetretene Juden handelt. Gewiss sind diese in der Machtelite stark übervertreten und besitzen einen ganz unverhältnismässig grossen Teil des Volksvermögens. Doch wenn die Rebellen Sprüche gegen die "Leute von Fes" skandierten, dann verwendeten sie den Ausdruck eher in übertragenem Sinn. Sie meinten damit ganz allgemein die korrupte Stadt mit ihrer Anhäufung von schrillem Luxus und Reichtum, die zugleich die Begehrlichkeit der Plünderer, den Hass der Armen und den Abscheu der Puritaner hervorruft.

All diese Faktoren spielten dann später bei der Skhirat-Revolte mit. Die Berber, welche kriegerischer, ärmer und puritanischer sind als die übrige Landbevölkerung, bilden vielleicht die Speerspitze der marokkanischen Bauernarmee, die sich im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder gegen den Luxus und die Tyrannei der Städte erhoben hat und der es immer klarer ist, dass ihre Armut kein ihnen von Gott auferlegtes, unabänderliches Los ist. Hier bestätigen nüchterne Statistiken die instinktiven Ahnungen des einfachen Volkes, zeigen sie doch, dass der gestiegene Lebensstandard der Stadtbevölkerung, oder zumindest eines Teils davon, auf Kosten der Landbevölkerung erfolgt ist.

Um den Ursprung einer politischen Bewegung zu verstehen, kann es oft hilfreich sein, zu untersuchen, wie sie sich später entwickelt. Im Fall einer im Keim erstickten Bewegung wie der hier geschilderten steht uns diese Möglichkeit natürlich nicht offen.

 

Trotzdem kann man sich mit Fug und Recht fragen, wohin der Putsch geführt hätte, wäre ihm Erfolg beschieden gewesen. Manche haben Parallelen zu den Ereignissen in Griechenland gezogen, die 1967 zu einer siebenjährigen Obristenherrschaft führten. Näher läge wohl der Vergleich mit einem Regime nasseristischer Ausrichtung. Wäre die Kugel, welche Madbouh traf, einige Zentimeter weiter links oder rechts gelandet, so würde Marokko heute vielleicht von einer Gruppe islamistisch-nasseristischer Offiziere regiert.

Wer annimmt, die beiden Putschversuche von 1971 und 1972 seien blosse Palastrevolutionen gewesen, der täuscht sich; sie hatten ganz andere Wurzeln. Geblieben sind die Probleme, welche fast alle Länder der sogenannten Dritten Welt in ihrem Würgegriff halten und an deren Lösung sich Marokko nicht ernstlich wagt.

Jahrhundertlange lebte Marokkos Volk in Armut, bisweilen in nacktem Elend. Doch wuchs die Bevölkerung wegen der niedrigen Lebens- erwartung nicht merklich. Heute nimmt die Einwohnerzahl des Landes pro Jahr um 3,2% zu, was bedeutet, dass sie sich alle 20 Jahre verdoppelt. Und all diese Menschen, die grossenteils keine Aussicht auf ein menschenwürdiges Dasein haben, dürfen zur Schule gehen und können Radio hören, denn es gibt in jedem Zelt und jeder Baracke einen Transistor. Die Zeit der Resignation ist vorbei.

Dass am 10. Juli 1971 und am 16. August 1972 in ihren Grundfesten erschütterte System war das alte, feudale Makhzen-System, das sich längst überlebt hat - durch 45 Jahre Kolonialherrschaft und 30 Jahre Pseudo-Selbständigkeit neokolonialistischer Prägung, während deren die Reichtümer des Landes im Interesse der Machthaber und deren Handlanger ausgebeutet wurden.

Die Prinzipien der wirtschaftlichen Entwicklung sind gleichzeitig hoch- kompliziert und grundeinfach. Um mehr zu produzieren, muss man investieren. Um zu investieren, muss man sparen. Um zu sparen, muss man weniger konsumieren, als man produziert, das heisst, man muss verzichten können. Jahrhundertelang war nur die breite Masse zum Verzichten bereit.

 

Heute macht die Masse das immer weniger mit, zumal sie sieht, wie eine parasitäre Minderheit schamlos in ergaunertem Reichtum und Luxus schwelgt. Vielleicht ist es eine Illusion anzunehmen, dass die Bürde des Verzichts gleichmässig auf alle Schultern verteilt werden kann; so etwas wie absolute Gerechtigkeit gibt es nicht. Doch kann man wenigstens verlangen, dass die Ungerechtigkeiten nicht allzu schreiend sind und dass die Armen, die den grössten Teil der Last auf sich nehmen, für ihre Opfer einen angemessenen Lohn erhalten.

Das alles mag ja selbstverständlich klingen, aber um diese selbst- verständlichen Forderungen durchzusetzen, ist eine Revolution von- nöten. Kann diese nicht mit friedlichen Mitteln und in geordneter Form verwirklicht werden (und es gibt solche Revolutionen; ein gutes Beispiel dafür bietet Schweden), dann nimmt sie blutige und gewaltsame Formen an, und dann sind es wiederum die kleinen Leute, die am meisten zu leiden haben.

Aber das marokkanische Volk hat keine Wahl. Es geht um das Wohl und Wehe eines ganzen Landes. Entweder die Revolution glückt, und die verrottete Monarchie wird beseitigt, oder die Revolutionäre sterben als freie islamische Menschen. Im Koran steht, wo Könige regierten, da breite sich Korruption aus und verwandle freie Menschen in Sklaven. Der Islam war von Anfang an eine revolutionäre Ideologie und Bewegung, die sich gegen die Tyrannei sowie gegen die erbliche Monarchie richtete.

Das Tor zur Zukunft steht offen. Der 10. Juli 1971 und der 16. August 1972 waren Warnsignale für die Herrschenden. Hassan II und seine Kettenhunde werden den Lauf der Geschichte nicht aufhalten können. Das Schicksal des Schahs von Persien sollte unserem Despoten zur Warnung gereichen, und nicht nur ihm, sondern allen Marokkanern und Ausländern, die von seinem Schandregime profitieren.

Dass die Armee in der innenpolitischen Entwicklung eines Landes eine Rolle spielt, ist kein auf die sogenannte Dritte Welt begrenztes Phänomen. Als ich nach Schweden gekommen war, beschäftigte ich mich ein wenig mit der Geschichte meiner neuen Heimat.

 

Ich erfuhr, dass eine Gruppe schwedischer Offiziere unter der Führung von General Adlercreutz am l3. März l809 einen Staatsstreich gegen König Gustaf Adolf durchführte, weil dieser innen- und aussen- politische Misswirtschaft betrieb.

Er wurde im Stockholmer Schloss von den Offizieren verhaftet, und dieser Staatsstreich führte am 10. Mai desselben Jahres zur Absetzung des Monarchen. Die darauf erfolgten politischen Reformen bilden die Grundlage der heutigen schwedischen Verfassung und Demokratie.

 


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Die islamische Welt

Die arabische Welt, der ich entstamme, hat vor allem gemeinsame kulturelle Wurzeln und schöpft aus einem gemeinsamen Erbe, einer sehr tiefgründigen Geisteswelt, die auf der islamischen Religion fusst. Doch ist die vom Islam gespielte Rolle keinesfalls rein religiöser Art; der Islam ist ein historischer Faktor, der auf kulturellem und ideologischem Gebiet ganz entscheidend zur Entstehung einer "arabisch-islamischen" Nationalität beigetragen hat.

Zu dieser "arabisch-islamischen Nationalität", auch "arabische Welt" genannt, gehört: l) Wer eine Variante der arabischen Sprache spricht und diese gleichzeitig als seine "natürliche" Sprache betrachtet; dies kann auch für Leute gelten, die gar nicht arabisch können, wie zum Beispiel viele Berber. 2) Wer als sein Erbe die Geschichte und die kulturellen Merkmale des Volkes betrachtet, das sich selbst als das arabische bezeichnet und von anderen so genannt wird. Zu diesen kulturellen Merkmalen gehört seit dem 7. Jahrhundert in allererster Linie die muselmanische Religion, die gewissermassen die Seele des Arabertums darstellt. 3) Wer seine arabische Identität zurückfordert und sich deren bewusst ist.

Die islamisch-arabische Welt setzt sich aus den Völkern jener Länder zusammen, deren Verfassung ihre Zugehörigkeit zu dieser Welt festlegen oder die Mitgliedstaaten der Arabischen Liga sind und deren Verträge unterzeichnet haben. Kern der islamischen Nation (wir Moslems verwenden diesen Begriff stets im Singular, auch wenn ein Nichtmoslem eher den Plural benutzen würde) ist die muselmanische Religion, die gleichzeitig die entscheidende Inspirationsquelle für ihre politische Ideologie bildet. Ganz ungeachtet der künstlichen Grenzen bilden alle arabischen Länder einen ideologischen und politischen Block mit einer gemeinsamen arabisch-muselmanischen Zivilisation.

 

In der arabischen Welt wird der Islam als göttliche Offenbarung über den Menschen, die Welt und Gott und als köstlicher Schatz betrachtet, der allen Arabern gemeinsam ist. Sogar christliche Araber anerkennen ihn als solchen und huldigen dem Propheten Mohammed als dem Einiger der Araber und deren geistigem Erwecker. Der Islam lässt sich als sekuläre Religion einstufen, wenn das Wort "sekulär" bedeutet, dass sich die Massen ihrer Verantwortung für ihre Geschichte bewusst werden. Immer und immer wieder wird im Koran betont, wie wichtig es ist, in der Volksgemeinschaft Verantwortungsbewusstsein zu wecken.

Die allgemeine Tendenz des arabisch-muselmanischen Nationalismus ist revolutionär, weil er defensiv wie offensiv gegen widrige äussere Umstände und gegen die koloniale Vorherrschaft kämpfen muss, sei diese nur kapitalistischer oder kommunistischer Natur. So werden die Strömungen, die aus de Sehnsucht der Massen entstehen und welche die Grundlage einer völkischen politischen Ideologie bilden, aufgefangen und kanalisiert und im Sinne des Islam verfeinert und ausgearbeitet. Dieser prägt die Worte und Taten der Herrschenden.

Die heutigen arabischen Staaten lassen sich nicht als Nationalstaaten bezeichnen. Es gibt nur eine islamische Nation, die "Umma". Laut der heutigen arabischen und islamischen Ideologie wäre der einzige vollständig legitime Nationalstaat derjenige, der die Gesamtheit der islamischen Nation umfasst. Die Loyalität des rechtgläubigen Musel- manen gilt viel eher dem Idealstaat, der noch zu schaffen ist, als dem real existierenden Staat.

Dem Koran zufolge ist ein Moslem nur dann zur Treue dem Staat gegenüber verpflichtet, wenn dieser eine auf echten islamischen Grundsätzen beruhende, legitime politische Organisation ist, die keine Grenzen zwischen Muslimen anerkennt. Anderenfalls herrscht Unterdrückung (özulmö), die Aufruhr, d.h. Revolution, rechtfertigt. Die vom religiösen Bekenntnis ausgehende Kraft lässt den provisorischen, im Grunde illegitimen Charakter der zurzeit hoffnungslos zersplitterten islamischen und arabischen Staaten in noch grellerem Lichte erscheinen und schwächt die Loyalität der Gläubigen diesen gegenüber.

 

Alle heutzutage in der arabischen Welt herrschenden Regime sind illegitim, versuchen sich aber mit allerlei heuchlerischen Mitteln den Anschein islamischer Legitimität zu geben.

Ausserdem kann man gegenwärtig, und dies ist ein hochinteressantes Phänomen, zwei Dinge beobachten, die zwar seit jeher existiert haben, jedoch unter den obwaltenden Umständen besondere Bedeutung erlangen. Zunächst ist die äusserst grosse politische und soziale Vitalität des Islam zu beobachten, und dann lässt sich erkennen, wie zielstrebig dieser in neuster Zeit seinen Wiedereintritt in die Geschichte probt - als Subjekt und nicht als Objekt. Dabei verzichtet der Islam darauf, sich angestrengt ein modernistisches Gesicht zu geben, und er hält es auch für ganz unnötig, sich mit fremden Denkweisen entlehnten intellektuellen Begründungen zu rechtfertigen. Seine Rechtfertigung liegt in sich selbst, in seinen eigenen heiligen Texten.

Professor Jacques Berque hebt hervor: "Der Islam kann nur Träger einer Utopie sein, der Utopie von der Wiederherstellung der Eintracht zwischen Mensch und Welt... Meiner Auffassung nach liegt die Macht der islamischen und arabischen Welt nicht in ihrem ™l, sondern in der Stärke ihrer Identität, oder, wenn man so will, in der Stärke ihrer Authentizität. Will man wirklich begreifen, was gegenwärtig in der islamischen Welt abläuft, so muss man alle der Sozialwissenschaft entlehnten Kategorien abstreifen, welche uns dazu zwingen, in politischen oder materialistischen Begriffen zu denken. Hingegen muss man die fundamentale Dimension des Imaginären wieder zu Ehren kommen lassen, und da sich der Islam in vollem Umbruch befindet, darf man keinesfalls aus den Augen verlieren, dass es sich in erster Linie um eine kulturelle Revolution handelt.ö

Die "Modernität", ob sie sich nun mit "stlichen oder mit westlichen Federn schmückt, hat sich als blosse Nachäffung entpuppt, als charakteristische Form kultureller, intellektueller und wirtschaftlicher Abhängigkeit, nicht zu verteidigen und ungemein trügerisch. Man kann die muselmanische Revolution ganz unmöglich verstehen, wenn man den Islam, welcher deren Seele und Volksideologie ist, nicht vorher studiert und begriffen hat.

 

Im Westen vermischen viele die Begriffe Moslem und Araber; so wird der Iran gelegentlich als "arabischer Staat" bezeichnet, was natürlich Unsinn ist. Man braucht keinesfalls Araber zu sein, um Moslem zu sein. Die islamische Nation (öUmmaö), die sich ab dem 7. Jahrhundert herauskristallisiert hat, fusst in erster Linie auf der arabischen Kultur, die wiederum auf dem Islam beruht.

Die relativ wenigen ethnischen Araber, welche anfangs an der Verbreitung des Islam beteiligt waren, gingen bald in den neuen lokalen Gesellschaften auf. Was man heute als "arabische Welt" bezeichnet, ist eine Schöpfung des Islam und nicht eines arabischen Kolonialismus. Die arabische Welt umfasst jene islamischen Staaten, in denen das Arabische Nationalsprache ist. Die anderen islamischen Staaten, von der Türkei bis Pakistan, vom Iran bis hin nach Indonesien, haben ihre eigenen Sprachen.

Die ca. 200 Millionen Araber, die in den Staaten von Marokko bis zum Irak leben, bilden in der eine Milliarde Menschen umfassenden islamischen Welt nur eine Minderheit. Da Arabisch die Sprache des Koran ist (man verrichtet seine Gebete in dieser Sprache), ist es für jeden Muselmanen eine heilige Sprache. Der Koran als heilige Schrift wird im Gegensatz zur Bibel nicht übersetzt. Die dennoch existierenden Koranübersetzungen gelten nicht als heilige Texte, sondern lediglich als Deutungen.

Jeder Moslem muss den Koran auf arabisch lesen und rezitieren. Es handelt sich um den völlig unveränderten, im 7. Jahrhundert der westlichen Zeitrechnung niedergeschriebenen Originaltext. Natürlich braucht man nicht Arabisch zu können, um Moslem zu sein. Meine Mutter beispielsweise kann kein Arabisch. Sie hat nur einige Verse aus dem Koran auswendig gelernt, die ausreichen, um ihre Gebete zu sprechen.

 


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In Schweden

Am 25. August 1973 flog ich von Paris mit einem falschen Pass nach Stockholm. Ich war gänzlich unvorbereitet auf das, was mich in Schweden erwartete. Dem falschen Pass zufolge hiess ich Idrissi. Ich hatte die Photographie des wirklichen Inhabers selbst entfernt und meine eigene hineingeklebt.

An Bord der Maschine sass ich neben einem jungen Schweden. Er hiess Håkan Fred‚n und hatte in Frankreich Urlaub gemacht. Ich stellte mich als "Idrissi aus Algerien" vor. Håkan arbeitete als Ingenieur im Universitätskrankenhaus von Uppsala. Den Namen der Stadt hörte ich damals zum ersten Mal. Als Håkan vernahm, dass ich weder rauchte noch trank, bat er mich, für ihn eine Extraration zollfreie Waren mitzunehmen. So verlief mein erster Kontakt mit einem Schweden.

Am Flughafen kam ich ohne Scherereien durch die Pass- und Zollkontrolle. Håkan anerbot mir, bei ihm in Uppsala zu übernachten und am nächsten Tag nach Stockholm weiterzufahren. Ich hatte ihm erklärt, ich wolle eine Woche als Tourist in der Hauptstadt seines Landes verbringen. Er wohnte in einem abbruchreifen Haus ohne warmes Wasser und Küche. Die Toilette lag draussen auf dem Hof. Dabei war er doch Ingenieur! Er wohnte so billig wie möglich, um mehr Geld fürs Reisen zu haben.

Am folgenden Tag nahm ich den Zug nach Stockholm. Ich hatte Håkan versprochen, ihn vor meiner Abreise anzurufen. Vor dem Hauptbahn- hof fragte ich einige Leute, ob sie ein billiges Hotel kannten, wo ich einige Nächte bleiben konnte. Ich wollte mich eben an eine junge Dame wenden, doch stattdessen richtete ein etwa 50 Jahre alter Herr das Wort an mich und erkundigte sich, ob ich Hilfe benötige. Wir nahmen den Bus zur Studentenunterkunft Domus. Ich bekam ein Zimmer, allerdings ohne Bett- und Kissenüberzug. Der Mann, der mir bei der Zimmersuche behilflich gewesen war, anerbot sich auch, mir solche zu beschaffen, aber ich machte ihm klar, dass ich ohne weiteres auf der blossen Matratze schlafen konnte.

 

Später am Abend kehrte er zurück, doch wollte ich ihm die Tür nicht öffnen. Wohl erkannte ich seine Stimme, doch war ich in höchstem Grade argwöhnisch, denn schliesslich befand ich mich immer noch auf der Flucht. So ging er denn fort, doch erst, nachdem er mir Bettlaken sowie einen Kopfkissenbezug durch die Brieföffnung gestopft hatte. Da ich, von meinem falschen Pass abgesehen, keinerlei Papiere hatte, die meine Identität bestätigten, getraute ich mich nicht, zur Polizei zu gehen und mich anzumelden. Auch fürchtete ich, verhaftet zu werden, da ich mit einem Pass eingereist war, der nicht mir gehörte. Wie sollte ich es bloss anstellen, um in Schweden bleiben zu dürfen?

Es galt unbedingt jemanden zu finden, der mir einen ersten Kontakt mit der Polizei ermöglichte. Während der ersten Tage verriet ich niemandem, wer ich war. Nach einer halben Woche machte ich die Bekanntschaft eines schwedischen Juristen namens Lennart Aspegren, der für die Schwedische Flüchtlingshilfe arbeitete und auch bei Amnesty International tätig war. Ihm und einem anderen aktiven Mitglied der beiden Organisationen, einem Griechen namens Poniridis (er wurde später griechischer Botschafter in Schweden!) enthüllte ich meinen Hintergrund und offenbarte ihnen, dass ich als politischer Flüchtling im Lande bleiben wollte. Beide waren sich nicht im klaren darüber, wie die Polizei auf meinen falschen Pass reagieren würde.

Poniridis schlug vor, wir sollten doch zusammen mit Lennart Aspegren die Polizeistation in Kungsholmen aufsuchen, wo ich einen Asylantrag einreichen sollte. Es bestand allerdings das Risiko, dass die Polizisten mich verhaften und ausweisen würden. Mit dieser Möglichkeit hatte ich gerechnet. Deswegen nahm ich ein paar Englischlehrbücher mit. Falls ich hinter schwedische Gardinen wanderte, würde ich wenigstens etwas zum Studieren haben.

Am letzten Tag meiner ersten Woche in Schweden, es war ein Freitag, begab ich mich zusammen mit Poniridis zu der besagten Polizeistation. Ich trug meinen kleinen roten Koffer bei mir, der Kleider und Bücher enthielt. Wir mussten uns bei einer ausgesprochen attraktiven Dame melden, die Kerstin hiess und als Kriminalinspekteurin arbeitete. Natürlich war ich nervös und verängstigt.

 

Poniridis erklärte auf schwedisch, was er über mich wusste, doch sie unterbrach ihn bald und stellte ihre Fragen direkt auf französisch an mich. Ich blieb alleine in ihrem Büro zurück. Sie war sehr freundlich und leutselig. Als sie erfuhr, dass ich mit einem falschen Pass gekommen war, wollte sie den Grund wissen. Nachdem ich ihr meine Geschichte erzählt hatte, beglückwünschte sie mich spontan dazu, dass es mir gelungen war, lebend aus Marokko zu entrinnen. Sie wollte auch wissen, ob ich lieber in einem Hotel oder bei einer Familie wohnen wollte, während ich auf die offizielle Polizeibefragung wartete. Aus verschiedenen Gründen wählte ich die zweite Möglichkeit.

Nach einigen Gesprächen auf einem Sozialamt nahm sie Kontakt mit einer Familie auf, welche südlich von Stockholm in Axelsberg wohnte. Sie sorgte auch dafür, dass ich Geld bekam, und bat mich, am folgenden Tag mit ein paar neuen Photos zurückzukommen, so dass ich einen Ausländerausweis erhalten konnte. Auf dem Sozialamt bekam ich die Adresse der Familie, bei der ich vorderhand wohnen sollte, sowie Geld für Kleider samt einer Monatskarte für die U-Bahn.

Familie Hedell in Axelsberg bestand aus Mutter Ann-Sofie, Tochter Cecilia, Sohn Niklas und fünf Hunden. Ich bekam ein eigenes Zimmer und durfte Küche wie Badezimmer benutzen, wann immer ich wollte. Alle waren mir gegebüber ungemein freundlich. Ann-Sofie konnte Französisch (ich sprach damals kaum Englisch) und dolmetschte für mich.

Ich rief meine Freunde Lennart Aspegren und Poniridis an und erzählte ihnen, wie sich die Dinge entwickelt hatten und dass ich bald zu einer offiziellen Befragung bei der Polizei antanzen musste. Durch die Polizei erfuhren die Medien von meiner Flucht aus Marokko und meinem jetzigen Aufenthalt in Schweden. Die meisten Leute, die ich in Marokko gekannt hatte, hielten mich für mausetot, und die Kunde von meiner geglückten Flucht in den Norden Europas überraschte manche nicht wenig.

 

Die französische Nachrichtenagentur AFP brachte die Nachricht als erste. Der Leiter dieser Agentur in Stockholm. Georges Herbouse, war ein früherer französischer Offizier, der in Marokko stationiert gewesen war und nach seiner Pensionierung Journalist wurde. Er war gut über die Verhältnisse in meinem Land unterrichtet und wusste sehr wohl, wer ich war, ohne dass wir uns früher je begegnet waren.

Kaum hatten die französischen Medien, die sich brennend für die Lage in Marokko interessieren, via ein AFP-Telegramm erfahren, wo ich mich befand, entfesselten sie eine hektische journalistische Aktivität. Die Nachricht von meinem Auftauchen in Stockholm prangte in grossen Lettern in den französischen Tages- und Wochenzeitungen. Auch der französische Rundfunk und das französische Fernsehen samt Radio Luxemburg vermeldeten die Nachricht. Reporter von Paris- Match, L'Express, Le Nouvel Observateur, Le Monde und RTL (Radio T‚l‚vision de Luxemburg) suchten mich in der schwedischen Kapitale auf, um mich zu interviewen. Kurzum, meine gelungene Flucht bewirkte einen Riesenwirbel. Sogar marokkanische Zeitungen druckten das AFP-Interview auf der Titelseite.

So erfuhren meine Eltern, Geschwister und Freunde in Marokko, dass ich noch unter den Lebenden weilte. Auch meine französische Freundin bekam die Nachricht zu Gesicht. Sie befand sich gerade in einem Laden in der Stadt Beauvais, als sie eine Ausgabe von Paris- Match durchblätterte. Als sie Bilder von mir erblickte und von meinem Schicksal las, wurde sie mitten im Geschäft ohnmächtig.

Während der ersten Zeit in Schweden lernte ich auch einen Mann kennen, der zu einem meiner besten Freunde werden sollte. Er hiess Stanislaw Romanow und war ein politischer Flüchtling aus Polen. So traf ich, ein Asylant aus einem proamerikanischen und kapitalistischen Diktaturstaat, einen Asylanten aus einer prosowjetischen und kommunistischen Diktatur. Er konnte mir anfangs sehr viel helfen, denn er war ein paar Jahre früher nach Schweden gekommen und beherrschte die Landessprache.

 

Im September 1973 wurde ich auch vom schwedischen Fernsehen interviewt. Der Reporter war Lars-Ola Borglid. Meine ersten Erfahrungen führten dazu, dass ich einen hervorragenden Eindruck von diesem Land und seinen Menschen erhielt. Die Gesellschaftsform, das Land, die Schweden, die Natur - das alles sagte mir ungemein zu. Ganz besonders imponierte mir das politische System mit all seinen Menschen- und Freiheitsrechten, die auch wirklich in der Praxis existieren und nicht nur hohle Schlagworte sind.

Wäre ich, der ich von Freiheit und Demokratie träumte, nach Algerien geflüchtet, oder in einen kommunistischen Staat wie Polen, Russland oder Kuba, so wäre ich sicher recht bald masslos enttäuscht gewesen - so enttäuscht, dass ich vielleicht den Verdacht geschöpft hätte, die Ideale, für die ich mich in Marokko so eingesetzt hatte, seien bloss eitle, unmöglich zu verwirklichende Träumereien. Die Realität hätte mich ernüchtert. Doch nun war ich durch eine glückliche Fügung in Schweden gelandet, und hier erlebte ich, dass meine Träume sehr wohl zu verwirklichen waren.

Hier gab es ja tatsächlich Menschenrechte und Meinungsfreiheit, Pluralismus und Toleranz, und, was das wichtigste von allem war, auch politische und wirtschaftliche Demokratie und Gleichheit. Manche urislamischen Grundsätze wie Menschenwürde, Freiheit und Gerecht- igkeit, sind in Schweden ungleich besser verwirklicht als in einem sich islamisch nennenden Staat wie Marokko.

Sogar vom Paradies, wie es im Koran geschildert wird und wie ich es mir in meiner Phantasie ausgemalt hatte, erhielt ich eine Vision, als ich an einem schönen Spätsommertag in Schweden angelangte und die prachtvolle Natur sah. Als ich den Skärgarden zum ersten Mal zu Gesicht bekam, stellte ich mir das Paradies noch schöner vor als zuvor. Trotz der uneingeschränkten Bewunderung, die ich für Schweden hegte, kreisten meine Gedanken immerfort um die Menschen in Marokko, wo meine Wurzeln lagen. Mein grundlegender Traum war stets, das dortige System zu verändern. so dass die Menschen auf eine lebenswerte Zukunft hoffen dürfen. Ich wollte dort eine demokratische Revolution verwirklichen, so dass auch wir Marokkaner Menschen- rechte bekamen, wie sie in Schweden als selbstverständlich gelten.

 

Da meine Wurzeln in Marokko liegen und meine Zukunftshoffnungen mit jenem Land verknüpft sind, betrachte ich meine Zeit in Schweden bis zum heutigen Tag als Provisorium. Ich war nicht als Einwanderer gekommen, um für immer hier zu bleiben, und hatte mich keineswegs auf einen dauerhaften Aufenthalt in diesem Lande eingestellt. Ich rechnete immer mit einem raschen Umschwung in Marokko, so dass ich heimkehren konnte.

Nach mehrwöchigem Warten wurde ich zur Polizei beordert, wo eine eingehende Befragung stattfand. Es war dies mein zweiter Kontakt mit der schwedischen Polizei. Welch ein himmelweiter Unterschied zur Polizei in Marokko! Dort heisst es, ein Polizist sei wie ein Skorpion, der alles sticht, was ihm zu nahe kommt. Ein Polizist unterscheidet nicht zwischen Freund und Feind; sein Stachel bedroht alle. Die Foltergeräte, welche in Marokko beim Verhör politischer Gefangener fleissig gebraucht werden, hängen in Schweden nur noch in Museen für mittelalterliche Geschichte.

Als ich es das erste Mal mit der schwedischen Polizei zu tun hatte, verspürte ich noch die Furcht, die mich in Marokko immer überkommen hatte, wenn ich vor einem Polizisten stand. Doch diese Furcht verlor ich sehr rasch, und schon bald hatte ich vollständiges Vertrauen in die schwedische Polizei.

Beim ersten eigentlichen Verhör unter der Leitung zweier junger Polizisten erschien es mir, als stellten sie nur jene Fragen, welche auf dem Formular vermerkt waren, denn sie machten einen eher gleichgültigen Eindruck. Sie arbeiteten mit Hilfe einer Dolmetscherin, einer Juristin, die diese Arbeit als Nebenjob verrichtete. Sie war sehr spontan und offenherzig. Auf ihrem Kleid trug sie ein Abzeichen der Konservativen Partei und betonte immer wieder, dass sie eine Konservative war. Dies hinderte sie freilich nicht daran, starke Sympathie für meine Sache zu empfinden. Während wir auf die Polizisten warteten, zeigte sie auf zwei andere anwesende Uniformierte und sagte: "Der da ist ein Konservativer, und der andere ist ein Sozi." Das Wort Sozi hörte ich zum ersten Male, und ich erfuhr, dass damit ein Sozialdemokrat gemeint war.

 

Als sie vernahm, dass ich mich an den Anwalt Hans-Göran Franck gewandt hatte, ärgerte sie sich masslos. "Warum zum Teufel bist du zu einem Kommunisten gegangen? Das war wirklich keine gute Idee. Er verteidigt amerikanische Vietnam-Deserteure!" brach sie aus. Nach der Befragung äusserte sie sich hochzufrieden über das, was ich in Marokko getan hatte. "Wir brauchen solche wackeren Burschen wie dich, um den Olof Palme loszuwerden", ermunterte sie mich.

Ich erzählte ihr meine ganze Geschichte. Leider liessen ihre Dolmetscherfähigkeiten zu wünschen übrig, und sie beging grobe Schnitzer. Als ich ihr zum Beispiel über den Kommandanten Saad berichtete, der "fantassin" (Infanterist) war, übersetzte sie das Wort mit öphantastisch". Aus meinem Vater, dem Scheich, machte sie einen Prinzen! Nachdem ich auf ihre oft fehlerhafte Übersetzung hingewiesen hatte, übernahm ein ehemaliger Botschafter die Dolmetscherrolle. Bei der Befragung waren zwei hohe Angehörige der Sicherheitspolizei anwesend. Nun stellte man mir die Fragen nicht mehr nach dem Formular, sondern passte sie meinem konkreten Fall an.

Ich bekam eine Aufenthaltserlaubnis. Sie wurde am 12. Dezember 1973 rechtskräftig. Da ich mein Geburtsdatum nicht kenne, aber für meine Personalnummer unbedingt eines brauchte, wählte ich den 12. Dezember, das Datum meiner Wiedergeburt. Wie durch ein Wunder hatte ich mein Land lebend verlassen können und besass nun eine neue Heimat.

Ans Aufgeben hatte ich ja nie gedacht, nicht einmal in den schwärzesten Augenblicken nach dem gescheiterten Putsch und während der Flucht. Nie hätte ich erwogen, meinen Kampf für Demokratie und Menschenrechte aufzugeben. Auch wenn der Staatsstreich gelungen wäre und wir danach mit der Revolution ernst gemacht hätten, wäre es mir eingefallen, die Hände in den Schoss zu legen.

Der Mensch bleibt ja Mensch und wirft seine Fehler und Gebrechen nicht mit einem politischen Kurswechsel ab. Machtmissbrauch, soziale Ungerechtigkeiten und vulgärer Egoismus wären natürlich auch in einer revolutionären Gesellschaft nicht ausgestorben.

 

Der Kampf, den wir gegen Tyrannei und Machtmissbrauch, gegen Unterdrückung und Unrecht führen, wird niemals zu Ende sein. Der Kampf für die Freiheit ist nie endgültig gewonnen. Er muss weitergeführt werden, solange es Menschen gibt. Je schreiender die Ungerechtigkeiten und je grösser die Herausforderungen waren, desto stärker war mein Wille, weiterzufechten. Auch in Schweden, wo die Menschenrechte in so hohem Masse verwirklicht sind, kämpfen Menschen weiter für eine Verbesserung des Systems.

Ich bin weiterhin der Überzeugung, dass tiefgreifende Veränderungen und eine demokratische Revolution in Marokko nur eine Frage der Zeit sind. Die Revolution kommt, ob mit mir oder ohne mich. Ich betrachte es immer noch als meine Pflicht und mein Recht, den Kampf für die Befreiung meines Vaterlandes von der Gewaltherrschaft und für seine bessere Zukunft weiterzuführen. Ich will meine Freunde nicht verraten, die in diesem Kampf gefallen sind.

Dieses Gelübde habe ich im Gedenken an meine fünfzehn Offiziers- kameraden abgelegt, die nach dem zweiten Putschversuch im Kugel- hagel der Erschiessungskommandos gestorben sind, aber auch im Gedenken an die über tausend Menschen, welche aufgrund ihrer Beteiligung am ersten Putschversuch immer noch unter menschen- unwürdigen Verhältnissen im Kerker schmachten. Nie werde ich ihr Andenken schänden, indem ich meinen Idealen untreu werde!

Ahmed Rami

 


(INDEX)




Die grösste (der Regierung nahestehende) marokkanische Wochenzeitschrift, Maroc Hebdo International,
herausgegeben in Casablanca, veröffentlichte am 22.7.1994, beginnend auf der ersten Seite, ein zweiseitiges
Interview mit Ahmed Rami. Dieses Interview wurde auch am 1.9.1994 in der grossen französischen Zeitung
Courrier International (herausgegeben in Paris) veröffentlicht. Hier folgt nun die deutsche Übersetzung.
Ahmed Rami
Teilnehmer an zwei StaatscoupversuchenInterviewt von Mustapha Tossa

Ahmed Rami wurde 1946 in Tafraout in Marokko geboren. Er besuchte die Oberschule in Tiznit im Süden Marokkos. Von 1963 bis 1966 arbeitete er als Lehrer für Geschichte und Geographie an Gymnasien in Casablanca. 1966 setzte er seine Ausbildung an der Militärakademie in Meknes fort. 1968 wurde er als Leutnant zum Stab der Panzertruppen nach Rabat versetzt.

1971 nahm er in Skhirat an einem Staatscoupversuch teil. 1972 an einem zweiten, beginnend mit einem Angriff auf das königliche Flugzeug. Er verliess sein Land und erreichte ein Jahr später Schweden, wo er als Flüchtling Aufnahme fand und die schwedische Staatsbürgerschaft erhielt. Nachdem er früher aktives Mitglied der UNFP (Union Nationale des Forces Populaires) gewesen war, bezeichnet er sich heute als militanter Islamist, jedoch als einer, der über den „Debatten über Volkstum und Riten" steht. Nach umfassenden eigenen Studien veröf-fentlichte er zahlreiche Bücher auf Schwedisch (der Sprache seines neuen Heimatlandes) über die palästinen-sische Frage, den Staat Israel und die Konflikte zwischen Muslimen und Juden. Zwanzig Jahre haben Ahmed Rami verändert. Heute glaubt er an einen friedlichen politischen Dialog, unter der Voraussetzung „dass alle Freiheiten im Kern der Staatsregierung gesetzlich garantiert sind".


Bezüglich der königlichen Erklärung vom 8.Juli (in der politische Flüchtlinge zur Rück-kehr eingeladen werden) : Glauben Sie, dass es Sie betrifft?

Ahmed Rami: Ich habe die Angewohnheit, an Taten und nicht an Worte zu glauben. Wenn auf eine Erklärung keine konkreten Handlungen folgen, wird sie sinnlos. Natürlich fühle ich mich von allem berührt, was sich in meinem Land ereignet. Es muss hinzugefügt werden, dass die marokkanische Gesellschaft nun durch eine entscheidende Phase ihrer Geschichte geht. Zu meiner persönlichen Lage: ich bin kein gewöhnlicher politischer Flüchtling. Ich habe in den Siebzigerjahren direkt oder indirekt an zwei Versuchen zu einem Staatscoup teilge-nommen (den Angriff auf den königlichen Palast in Skhirat am 10.Juli 1971 und den Angriff auf das Flugzeug Hassan II. am 16.August 1972), nachdem ich Aktivist in der UNFP gewesen war. Mein Fall kann nur auf höchstem militärischen Niveau behandelt werden.


Ist Ihre Rückkehr nach Marokko unter den gegenwärtigen Verhältnissen denkbar und wie?

Ahmed Rami: Sie müssen wissen, dass ich meine Rückkehr nach Marokko als keine unbe-dingte Notwendigkeit betrachte. Natürlich ist es mein heissester Wunsch, mein Volk zu retten, besonders meine Mutter und meinen Bruder, denen glücklicherweise nie zugesetzt wurde, ebensowenig meinem Vater, der übrigens vor zwei Jahren in Ruhe in seinem Heim in Marokko verstarb. Wegen meines Exils konnte ich ihn nicht ein letztes mal sehen.


Sind Sie entschlossen, in Ihr Land zurückzukehren?

Ahmed Rami: Wenn Sie meine Sicherheit und mir die Freiheit meine Meinung auszudrücken garantieren, würde ich das nächste Flugzeug nehmen. Wissen Sie, jedes Exil ist leidvoll, aber das Leid ist weniger hart, wenn der Betroffene für die Verwirklichung seiner Ideale und Über-zeugungen kämpft.


Mit anderen Worten: Ihre Rückkehr nach Marokko bleibt hypothetisch?

Ahmed Rami: Ich wiederhole, dass ich kein gewöhnlicher politischer Flüchtling bin. Mein Fall kann nur auf höchstem Niveau von einer militärischen Behörde behandelt werden, d.h.vom Staatsoberhaupt. Mein Traum ist jedoch, zu einem Land, das nach den Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit regiert wird, zurückkehren zu können. Falls jene, die sich in ver-antwortlichen Stellungen befinden, dies wünschen, könnte Marokko für die ganze arabisch-islamische Welt zum Vorbild für einen milden und friedlichen Übergang zur Demokratie werden.

Staatscoups sind die schlechteste Alternative für ein Land. Heute ist es sinnlos, sich über das Geschehene zu grämen. Es gehört zur Vergangenheit. Aber die Zustände bezüglich Unter-drückung und Korruption waren damals derart, dass ein Staatscoup der einzige Weg war, die Unzufriedenheit wirkungsvoll auszudrücken.

Damals war ich nur 25 Jahre alt, demnach jung, ungeduldig, dynamisch und hitzig. Wie die meisten Jungen meiner Generation wollte ich die Welt verändern, aber wie? Manche ver-suchten dies mit ideologischen Diskussionen, andere, wie ich, mit Taten. Vergessen Sie nicht, dass ich in der Armee war, wo man gewohnt ist, mehr zu handeln als zu reden


.Dann drückten Sie sich mit Hilfe der Waffen aus. War das eine gute Lösung?

Ahmed Rami:
Es war die schlechteste Lösung. Es ist ein Zeichen von Schwäche in unserer Gesellschaft, wenn ein Bedarf zur Zuflucht zu Gewalt bestand. Aber all dies ist nun Geschichte. Zwingen Sie mich nicht, in der Vergangenheit, die wir hinter uns haben, herum-zurühren. Heute bedeutet der Islam für mich eine neue moralische Verpflichtung.


Aber konnten Sie diese Auffassung nicht schon immer als Mitglied einer politischen Partei in Marokko ausdrücken?

Ahmed Rami: Die politischen Parteien in Marokko sind kaum repräsentativ. Es besteht ein tatsächlicher Bruch zwischen diesen Organisationen und dem marokkanischem Volk. Ausserdem darf man in Marokko noch nicht Die Partei, die wir wünschen gründen. Dies ist nicht etwa meine Erfindung es ist die Tatsache.

Das Problem hat nicht so viel mit der Form des Regimes zu tun, wie mit dessen Art und tatsächlichen Absichten. Die gegenwärtigen politischen Parteien bestehen gerade einmal der Form halber und bilden einen wesentlichen Teil des Regimes, das sie geschaffen hat, um seine wirkliche Natur zu verbergen. Dieses Regime wie alle anderen heutigen arabischen Regime hat keine Legitimität. Das ist das wesentliche Problem. Gebt uns Freiheit der Meinungsäusserung und Organisierung (auch für die Islamisten!), gebt uns einen echten politischen Pluralismus, gebt uns eine wahre Veränderung gleich welcher Art und nennt dies, was immer Ihr wollt! Und wir werden ein angemessenes arabisches Wort dafür finden! Wir müssen Demokratie als eine Methode definieren, eher Spielregeln für das politische Spiel, als einen bestimmtem ideologischen Inhalt (der Islam ist unsere einzige Ideologie). Die Demokratie ist eine neutrale Methode, etwa wie die Mathematik, und notwendig für das gute Funktionieren jeder menschlichen Gesellschaft.


Sie sind ein politischer Flüchtling in Schweden. Können Sie uns etwas über Ihre Tätigkeiten in diesem Land erzählen?

Ahmed Rami: Als Islamist muss ich global denken und lokal handeln. Als ich nach Schweden kam, erkannte ich rasch, dass immer über unsere Moslem-Identität gespottet wurde. So schuf ich Radio Islam. Ich kann Ihnen versichern, dass ich in diesem Sender mein Land niemals schlecht gemacht habe, da ich finde, dass man die Schmutzwäsche nicht international in der Öffentlichkeit waschen sollte. Die Themen in unserem Radio sind unter anderem das Palästinensische Problem, der Golfkrieg und die Situation der Moslems in der ganzen Welt.

Wegen des Palästinensischen Problems wurde ich in einen Konflikt mit der zionistischen Lobby in Schweden und in der ganzen Welt gezogen und ich habe einige Bücher auf schwedisch darüber geschrieben. Die Jüdische Lobby brachte mich dafür „wegen Mangel an Respekt für das Jüdische Volk" auf sechs Monate ins Gefängnis. Dies ist im Effekt ein Kampf mit ungleichen Waffen.


Sie sind bekannt, bevorzugte Beziehungen zum iranischen Regime zu unterhalten . . ..

Ahmed Rami: Ganz richtig, am Ende meines Gerichtsverfahrens, das eine wichtige Auf-merksamkeit in den Medien hervorrief. Ich wurde von den Iraniern eingeladen, nach Teheran zu kommen. Mein Fall wurde auf höchster Ebene in der Islamischen Republik diskutiert und das Parlament diskutierte die Einzelheiten in meinem Urteil.


Hat der Iran Ihre Tätigkeiten in Schweden finanziert?

Ahmed Rami: Wenn ich je auch nur den kleinsten Betrag von den Iraniern erhalten hätte, glauben Sie mir, die Jüdische Lobby in Schweden hätte nie gezögert, es von allen Dächern herunter zu schreien. Ich habe nie von wem auch immer irgendeine Donation erhalten. Radio Islam wird von seinen Hörern finanziert. Meine Bücher wurden von wohlwollenden und bekannten Schweden gedruckt. Ich habe diesen Weg gewählt, um nicht von irgendjemand abhängig zu sein, und dies erhält mir meine Meinungsfreiheit und Kritk und meine Würde als freier Moslem.


Halten Sie Beziehungen zu marokkanischen Islamisten aufrecht?

Ahmed Rami: Ich halte einige Beziehungen aufrecht aber ich gehöre keiner Bewegung an.


Was hält Sie ab, einer islamischen Bewegung anzugehören?

Ahmed Rami: Meine Verbindung zu ihnen erlaubt mir, ihre Meinung zu hören. Eine aufgeklärte und radikale islamische Revolution ist der einzige Weg zur Rettung unserer Nation. Die islamistischen Bewegungen sind unsere einzige Chance, diese Revolution zu verwirklichen. Heute scheinen die Islamisten die einzigen zu sein, die der kulturellen Deka-denz Widerstand bieten. Es kann natürlich nicht verneint werden, dass gewisse islamistische Bewegungen noch nicht gelernt haben, sich mit dem Wesentlichen zuerst zu befassen. Wenn ich für eine Wiedererweckung und Renaissance des Islam kämpfe und für die Errichtung eines islamischen Staates, dann nicht, um dummen Fanatikern die Macht zu geben, wie einigen von jenen in Afghanistan oder in Kuwait, intoleranten Menschen, die dem Islam schaden. Einige dieser „Islamisten" wissen mehr über das siebente Jahrhundert als über das wanzigste.

Das Ziel des Islam ist die Befreiung der Menschen. Im Islam ist die Freiheit die Regel, Verbot ist die Ausnahme. Im idealen islamischen Staat, den ich empfehle, ist das fundamentale Prinzip das einer Freiheit, die den Pluralismus von Ideen garantiert, der geführt ist vom Koran, der Sunna und dem gesunden Menschenverstand Ijtihad. Die islamistischen Bewegungen zeigen immer noch einen grossen Mangel an intelligenten, aufgeklärten und kompetenten politischen Kadern, die im stande sind, wirkliche islamische Belange ebenso zu behandeln, wie die Probleme unserer Zeit. Die einzige Bewegung, die zu einem gewissen Grad mit einer derartigen stabilen Struktur begabt zu sein scheint, ist die Hizbollah im Libanon. Bei drei Gelegenheiten bin ich mit deren spirituellem Führer Mohammed Hussein Fadlallah zusammengetroffen, der die Eigenschaften eines grossen Führers zeigt. Im Libanon gibt es ein relativ demokratisches System mit Äusserungsfreiheit, das günstig für eine gesunde politische Entwicklung und das Auftauchen von geeigneten Führern zu sein scheint. Aber diese libanesische Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen, sie entstand in einem heroischen Kampf.

Es besteht die Gefahr, dass einige der „islamistischen" Bewegungen an der gleichen Krankheit leiden, die sie zu bekämpfen vorgeben. Inkompetente und machthungrige „Führer" geschaffen von den gegenwärtigen Regimen können sich leicht einschleichen und die der Bewegung obliegende Geheimhaltung zur Errichtung einer internen Diktatur nutzen. Um dies zu vermeiden, ist es wesentlich, die Schaffung verschiedener islamistischer politischer Par-teien zu erlauben und eine freie Debatte zu sichern. Die Hauptfeinde unserer Nationen sind die in unseren Ländern etablierten korrupten tyrannischen Regime. Nur die Islamisten sind fähig, sie zu bekämpfen, und mit den durch ihre Handlungen gemachten Erfahrungen werden die Islamisten und deren Organisationen reifen. Die Islamische Republik des Iran ist ein Beweis dafür. Sie ist der einzige repräsentative und legitimierte Staat in der moslemischen Welt.


Haben Sie politische Verbindungen mit anderen Marokkanern im Exil?

Ahmed Rami: Ich treffe oft solche Leute und ich habe freundschaftliche Beziehungen zu Abdelmoumen Diouri. Aber meine Verbindungen zu Marokkanern sind nicht nur auf im Exil lebende beschränkt. Bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich Abderrahmane Youssoufi (den gegenwärtigen Premiärminister) getroffen, den ich wegen seiner Rechtschaffenheit schätze.


Welche Stellung beziehen Sie zur Sahara-Affaire?

Ahmed Rami: Meine Einstellung war immer klar. Ich teile die Meinung des Volkes in Marokko bezüglich seiner Rechte in der Sahara. Meiner Meinung nach sollte auch Mauretanien und Algerien sich mit meinem Heimatland vereinigen. Wenn ich in Marokko wohnen würde, hätte ich Seite an Seite mit meinen Kameraden für die Einheit der moslemischen Länder und für die Wiedervereinigung unserer Provinzen in der Sahara gekämpft. Ich erinnere mich, dass ich, nachdem ich Marokko verlassen hatte, von Präsident Boumedienne in Algerien eingeladen wurde. Ich wurde mit grossem Pomp empfangen und der Präsident bot mir die Funktion als "militärischer Führer" der "Polisario" an. Meine Antwort war: "Wenn ich gewollt hätte, mich für einen Staat zu prostituieren, hätte ich Marokko nie verlassen". Bei verschiedenen Gelegenheiten während meines Aufenthaltes im Ausland weigerte ich mich stets an Treffen teilzunehmen, wo es Vertreter der Polisario-Söldner gab.





Der folgende Artikel hier in deutscher Übersetzung wurde in der grossen russischen Zeitung Pravda am 15.Juli 1997 veröffentlicht:

 Ahmed Ramis Idealismus

Vor über 25 Jahren gab König Hassan II. die Order, den ehemaligen Lautnant Ahmed Rami auf- zufinden und nach Marokko zu bringen. Er hatte an mindestens zwei Verschwörungen teilgenommen, die den Sturz der Monarchie und die Errichtung einer islamischen Republik zum Ziel hatten. Der marokkanische Sicherheitsdienst konnte den Auftrag des Königs nicht erledigen.

Heute ist diese sympathische, jugendliche und unglaublich energische Person eine der populärsten in Schweden, aber gleichzeitig auch eine der meist gehassten. Seine politischen Ansichten werden im Reichstag diskutiert und, wie gesagt wird, auch in Regierungskreisen. Er hat vier dicke Bücher geschrieben und herausgegeben. In diesen legt er überzeugend dar, dass in Schweden, wie überall im Westen, der Grund für das nationale Leben untergraben ist, und dass es von Menschen gelenkt wird, die nichts mit echter Demokratie gemeinsam haben, sondern feindliche Ziele gegen ihre Völker zu verwirklichen anstreben. Es ist die berüchtigte „Neue Weltordnung". Rami, der heute schwedischer Staatsbürger ist, wiederholt dies nimmermüde in den Sendungen von Radio Islam.

Begreiflich, dass derartige Ansichten nicht geschätzt werden, sondern milde ausgedrückt merkbare Irritation innerhalb der „Welt der Mächtigen" wecken. Vor einigen Jahren wurde er (ein Araber und hundertprozentiger Semit) des Antisemitismus angeklagt. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und verbrachte ein halbes Jahr hinter Gittern. Erstaunlicherweise wurde festgestellt, dass er der einzige politische Gefangene in ganz Schweden war.

Trotz allem ist Ahmed Rami kein gebrochener Mann und hat keineswegs seinen Mut verloren. Das Gefängnis hat ihn möglicherweise nur gestärkt und überzeugt, dass er recht hat. Radio Islams Sendungen gehen weiter und der mutige Marokkaner denkt nicht daran, den Kampf abzubrechen. Für ihn ist es lebenswichtig, „dass Völker in allen Ländern wirklich unanhängig sein dürfen und sich nicht jener Minorität unterordnen, die sich die Macht zugeschanzt hat".


Was ist der Grund für seine Überzeugung? Was gibt ihm die Kraft, laut auszu-sprechen, was die Majorität nicht einmal zu denken wagt? Begreift er, wogegen er die Hand erhebt, wer es ist, den er herausfordert? Als ich Ahmed Rami traf, konnte ich es nicht sein lassen, ihm diese Fragen zu stellen.

A.R.: Seit meiner Jugend halte ich an der sozialistischen Überzeugung fest. Ich strebte immer nach Gleichheit und Gerechtigkeit. Daher schloss ich mich der „Volksunion" (UNFP), gegründet von Ben-Barka, der später von der Geheimpolizei ermordet wurde, an. König Hassan II. hat seinen Tod ganz und gar auf seinem Gewissen. Er lenkt das Land seit vielen Jahrzehnten mit mittelalterlicher Grausamkeit und ist hauptsächlich ein Schützling fremder Mächte, vor allem Israels und Israels USA.

Bisweilen kann man hören Marokko sei eine demokratische Monarchie. Und damit meint man eine „Judenkratie". Man darf jeden kritisieren, nur nicht den, der die wirkliche Macht hat. Die halten sich immer verborgen und deren Namen dürfen überhaupt nicht genannt werden.

Der König kann keinen Schritt ohne den Juden André Azoulay machen einen zionistischen Ratgeber aus Kanada. Azoulay und seinesgleichen bestimmen nunmehr über Marokkos Staats-angelegenheiten. Ausbildung, Massenmedien und das ganze Gesellschaftsleben wird von diesen Herren bestimmt und nicht von den Marokkanern selbst. Sie zeigen die Richtung und bestimmen, von welchen Idealen die Bürger sich im täglichen Leben leiten lassen sollen. Mit Sicherheit kann man sagen, dass wir in diesem Araberland die wirkliche zionistische Zensur, die „Demokratie" heisst, haben. Daher kann nie die Rede von einem freien Willen des Volkes oder von einem freien Wort sein. Im übrigen hat mich meine eigene Erfahrung überzeugt, dass die Situation in anderen Ländern nicht besser ist.

In Schweden ist die „Gehirnwäsche" in vollem Gang und man zwingt dem Volk anti-schwedische Wertmasstäbe auf. Es sind nur die völlig Blinden und Tauben, die dies nicht bemerken. Es ist das Werk des zionistischen intellektuellen Terrors und der Desinformation, dass das Volk die Existenz einer jüdischen Macht verneint, aber gleichzeitig Todesangst vor ihr hat! Mit allem Recht können die Schweden stolz auf ihren hohen Lebensstandard sein, aber hartnäckig weigern sie sich einzusehen, was man ihnen weggenommen hat.

Die Macht über die Banken, Massenmedien und Wirtschaft liegt in den Händen einer kleinen Gruppe „Auserwählter". Der gesamte Unterricht in Schulen und auf Universitäten wird auf eine im Sinne diese Minorität vorteilhafte Weise betrieben. Darüber hinaus wird die Geschichte, einschliesslich nicht allzu ferner Ereignisse, im Interesse der Minorität gedeutet. Aber die Wahrheit ist eine ganz andere als die, die das Fernsehen zeigt. Und was ist das für eine Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie, wenn die Macht einer Minorität gehört? Dies gilt auch für Schweden.

In der vorhergegangenen Regierung war der Koordinationsminister ein sehr wichtiger Posten Jan Nygren, ein Repräsentant für die ethnische Minorität. In keiner Weise versuchte er zu verbergen, dass er sich als Herr über Schweden fühlte. In der „Jüdischen Chronik" veröffentlichte er einen Artikel, in dem er ganz offen und beredt von „Meinem jüdischen Schweden" schrieb. Dieser Mensch hatte viel zu sagen, wenn es galt Regierungsposten zu besetzen!

Nun ist Nygren ausgeschieden, aber dafür kam als „nächster Mann" des Ministerpräsidenten ein anderer der „Auserwählten", ein sehr reicher Spekulant, Leif Pagrotsky, auf den Posten des stellvertretenden Finanzministers. Heute ist er ausserdem Aussenhandelsminister und damit ein wichtiger Vertreter für „Die goldene Internationale".


Unter welcher Regierung sozialdemokratisch oder bürgerlich merkt man den grössten Einfluss dieser Minorität?

A.R.: Es spielt überhaupt keine Rolle, welche Regierung das Land hat. Der Unterschied rechts/links hat einen falschen Charakter. Die Macht besitzt der, der die finanziellen Mittel und die Massenmedien besitzt. Geradeheraus gesagt: In Schweden sind alle politischen Parteien vollständig judaisiert. Der Streit findet nicht zwischen rechts und links statt, wie unwissende Menschen meinen, sondern zwischen verschiedenen zionistischen Klanen. Sie kämpfen nicht für das Beste des Landes, sondern für den eigenen Vorteil.


Gibt es viele in Schweden, die die gleiche Auffassung haben?

A.R.: Nein, nicht viele. Wie Sie sich denken können, ist es unter einem so harten intellektuellen, politischen und polizeilichen Terror für die meisten schwer, Zivilcourage zu prioritieren. Es ist vermutlich der primitive Selbsterhaltungstrieb, der funktioniert. Alle wollen gut essen und trinken und sich so wenig Sorgen wie möglich machen. Aber trotzdem erhalte ich Antworten auf die Sendungen von Radio Islam. Ich erhalte dutzende, wenn nicht hunderte Briefe, auch aus anderen Ländern. Dank Internet wurde es einfacher miteinander umzugehen und Informationen auszutauschen. Ich hoffe, dass ich auch Gesinnungsgenossen in Russland finden werde. Die neu ausgeschlüpften Sklavenhalter fürchten immer noch Ihr Land, obwohl es ihnen gelungen ist, es zu zerschlagen.


Möchten Sie nicht nach Russland reisen?

A.R.: Ich glaube, dass dies ausserordentlich gefährlich wäre. Bei Ihnen ist heute die Kriminalität grösser als in den USA. Nach mir zugänglichen Informationen sind viele Antizionisten unter eigentümlichen und dunklen Umständen gestorben. Entweder sind sie während einer gewöhnlichen ärztlichen Untersuchung gestorben, obwohl sie nie irgendwelche Gesundheitsprobleme gehabt hatten, oder sie wurden von einem Auto überfahren, oder sie wurden erhängt aufgefunden. In keinem Fall fand man die Mörder, oder genauer gesagt: man suchte nicht einmal nach ihnen.

„Schwedische" Zeitungen und Sie wissen, wer diese besitzt oder steuert schreiben ständig über Ihr Land als eine „Gefahr" und geben ein Bild vom heutigen Russland als ein Paradies für die Maffia. Ihr Land war immer und wird es immer bleiben: die absolut grösste Bedrohung für „das kleine Volk", das nicht aufhört Russland zu fürchten, wenn es auch so aussieht, als wäre das Land besiegt und nach all den Experimenten der auserwählten „Übermenschen" kaum zu atmen vermag. Ich ziehe diesen Schluss, nachdem ich die anti-russischen Artikel, die weiterhin in der schwedischen Presse auftauchen, gelesen habe. Einige dieser sind von dem in Schweden bekannten Politiker Per Ahlmark geschrieben. Und es ist offensichtlich kein Zufall, dass Israel ihm zu Ehren auf von den Palästinensern gestohlenem Boden einen neugepflanzten Wald nach ihm genannt hat. Ahlmark wurde auch von der jüdischen Gemeinde Dänemarks zum Ben Adam, zum Menschen, ernannt.


Haben Sie nicht Angst, in Schweden zu wohnen? Sie sind ja schon hinter Gittern gesessen.

A.R.: Ein gläubiger Mensch hat nichts zu fürchten. Ich bin Drohungen gewohnt und eben wird eine gewaltige Kampagne gegen mich und Radio Islam betrieben. Aber in Stockholm kann man immer noch sagen, was man denkt, wenn man auch nicht allzu viele Anhänger hat. Heute betrachten Mafiosos der ganzen Welt sich selbst als Sieger. Aus deren Blickwinkel ist das „Spiel entschieden". Und selbstverständlich kan der, der die Wahrheit sagt, sich nirgend-wo sicher fühlen. Erst heute erhielt ich einen Brief folgenden Inhalts: „Du dreckiges arabisches Schwein, was willst Du denn erreichen? Wir lachen über Deine kümmerlichen Anstrengungen. Wir geniessen es, nach einer Flasche Vodka Absolut Deine Programme zu hören. Wir haben die ganze Welt in unseren Händen. Und wenn wir dazu Lust haben, verschwindest Du von der Erdoberfläche wie eine Fliege, und niemand wird auch nur einen Mucks machen und Deinem Verschwinden Beachtung schenken."


Aber wonach streben Sie eigentlich?

A.R.: Ich strebe nach dem, wonach nach meiner Ansicht jeder Mensch streben sollte: Freiheit und Gerechtigkeit. In dieser von Allah geschaffenen Welt darf niemand Privilegien haben einschliesslich der zionistischen Maffia, die sich schon unermessliche Macht und Reichtümer durch Lügen, Hinterlist, Betrug und verächtliche Gaunereien geschaffen hat. Heute feiern sie das grenzen- und endlose Purimfest. Lasst Schweden, Russen, Araber und andere Völker ebenbürtig mit jenen sein, die sich selbst auserwählt und über allen anderen Völkern stehend betrachten.

Ich bin Muslim und das bedeutet, dass ich gegen alle Privilegien bin, besonders die, die nur auf Macht und das Gesetz des Djungels gebaut sind. Ich hoffe, dass ich mich einfach und klar ausgedrückt habe und dass Sie verstehen, wer meine Ansichten und Taten verabscheut.

Irgendjemand könnte Ahmed Rami vielleicht einen Paranoiker nennen oder eine Person mit einer fixen Idee. Ich selbst sehe ihn als eine Person, der dank seiner exeptionellen Selbstaufopferung die Grenzen zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Freiheit und Sklaverei noch nicht endgültig ausgelöscht hat. Man kann nur bedauern, dass diese Idealisten wie Rami in unserer allzu pragmatischen Welt, in der es bedeutend vorteilhafter ist, listig zu sein und sich anzupassen, als sich selbst zu sein, immer weniger werden. Man kann Ahmed Rami nicht kaufen. Daher ist er gehasst und gefährlich für alle Fürsprecher der „Neuen Weltordnung" sowohl in Schweden als auch weit ausserhalb des Landes Grenzen.

Valentin Prussakov, Korrespondent der Pravda.



Wer ist der Interviewer Ahmed Rami?
Ahmed Rami, Europa-Korrespondent von ALSHAAB, ist ein islamistischer Kämpfer marokkanischer Herkunft. Sein Lebensweg ist in vielem typisch für seine Generation. Er wurde der Mittäterschaft am gescheiterten Putsch im Juli 1971 gegen Hassan II beschuldigt. Damals war Rami Offizier der marokkanischen Armee. Er wurde zum Tode verurteilt, konnte jedoch ins Ausland flüchten. Er gehört zu den Bewunderern Ägyptens und Nassers. Rami lebt heute nicht nur in Schweden. sondern er ist mittlerweile schwedischer Staatsbürger geworden. Er hat in seiner neuen Heimat den Radiosender Radio Islam gegründet.

Ahmed Rami sieht im Islam die Möglichkeit zur Einigung der arabischen Nation. Seine Hochachtung gilt auch heute noch der Nasser-Epoche. Bei aller Leidenschaft für die vergangenheit ist sein Blick jedoch in die Zukunft gerichtet. Die Zukunft gehört nacb seiner Auffassung der islamischen Bewegung und er identifiziert sich mit den Ansicht-en der islamischen Aktionspartei Ägyptens. Er ist ab jetzt für unsere Zeitung als Europa-Korrespondent tätig. Wir nehmen ihn mit Freude in die Reihen der Mitarbeiter von ALSHAAB auf.

Ahmed Rami leistet in Schweden Außergewöhnliches. Fast als einziger kämpft er dort gegen die zionistische Infiltration. Rami betreibt seinen Radiosender Radio-Islam (der Sender ist aus finanziellen Gründen vorübergehend inaktiv) von seiner 20 qm großen Wohnung aus. Eine größere Wohnung will er nicht mieten. weil er an seine Rückkehr nach Marokko oder in einen anderen Teil seines arabischen Vaterlandes denkt.

Aus seiner Feder stammen vier umfangreiche, die Zionisten demaskierende Bücher in schwedischer Sprache. Schwedische Christen haben deren Druck finanziert! In Schweden kennt jedermann Ahmed Rami. Seine politischen Ansichten werden im Parlament und bisweilen von der schwedischen Regierung erörtert. Allerdings ist es den jüdischen Organisationen gelungen, ihn wegen eines sogenannten Antisemitismus anzuklagen und ihn für sechs Monate ins Gefängnis zu bringen. Während seines Gefängnisaufenthaltes organisierte er die Sendungen von Radio-Islam von der Gefängniszelle aus.

Das Gefängnis verließ er als ungebeugter antizionistischer Widerstandskämpfer. Als Korrespondent von ALSHAAB führt er nun den Kampf auf anderer Ebene weiter. Gott segne und schütze ihn sowie alle Menschen seinesgleichen zum Wohle unserer Nation!

Magdy Hussein
ALSHAAB

 

Ein Leben für Freiheit
Eine Selbstbiographie
Deutsche Übersetzung: Jürgen Graf
Ein spannendes Lebensschicksal !

Nicht viele Menschen unserer Zeit dürften ein so ereignisreiches Leben hinter sich haben wie der nunmehr in Schweden ansässige Marokkaner Ahmed Rami, der Sohn eines berberischen Stammeshäuptlings und später ausgebildeter Offizier in der marokkanischen Armee.

Zusammen mit anderen Gegnern des korrupten Regimes ihres Landes hat er sich der junge Panzeroffizier Anfang der siebziger Jahre zweimal an kühnen Staatsstreichen beteiligt, um den diktatorischen und depravierten König abzusetzen, beidemal ohne Glück. Bei der letzteren Gelegenheit schwebte er in grösster Lebensgefahr, bis es ihm schliesslich gelang, sich als Flüchtling in Sicherheit zu bringen.

Ahmed gehört zu den wenigen intelligenten, mutigen Menschen, die bereit sind, alles für die Ideale der Freiheit und Gerechtigkeit zu geben. Seine Lebensgeschichte ist nicht nur ungewöhnlich spannend, sondern auch sehr aufschlussreich in bezug auf die drängenden geistigen und sozialen Probleme unserer Zeit!

Gib mir Gleichmut, die Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann! Gib mir Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann! Gib mir Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden!

 

 Ahmed Rami, Founder of Radio Islam, Address: Box 316, 10126 Stockholm, Sweden. Phone: +46-708121240

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